Bildung Der lange Weg zur Sekundarschule in NRW

Düsseldorf · Für die Einführung der Sekundarschule hat sich die Schulministerin mit den Kommunen verbündet. Das gemeinsame Herzensprojekt aber, von dem Sylvia Löhrmann stets spricht, ist die neue Schule nicht.

NRW-Politiker schließen Schulfrieden
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Wer Reformen will, braucht Verbündete. Wer die Revolution will, braucht mächtige Verbündete. Sylvia Löhrmann wollte die Revolution. Zumindest lief es auf eine Revolution hinaus, was 2010 Nordrhein-Westfalens neue grüne Schulministerin als Ziel im Koalitionsvertrag verewigte: Bis 2015 sollten 30 Prozent der weiterführenden Schulen in "Gemeinschaftsschulen" umgewandelt werden, in denen die Kinder bis mindestens zur sechsten Klasse gemeinsam lernen sollten.

Das hätte bis zu 900 Schulen betroffen. Heute, knapp zwei Jahre später, ist klar: Es wird ein Revolutiönchen. 42 neue Schulen, mittlerweile Sekundarschulen genannt, nehmen im Sommer den Betrieb auf. Bis 2015 erwartet die Landesregierung etwa 200 Neugründungen.

Löhrmann hat es mit ihrer Umgestaltungspolitik überhaupt nur deshalb so weit gebracht, weil sie zwei mächtige Verbündete an ihrer Seite weiß: die Demografie und die Kommunen. Weil die Schülerzahl in NRW drastisch sinkt (minus 15 Prozent in den nächsten zehn Jahren), bekommen vor allem Landgemeinden ihre Schulen nicht mehr voll. Die Hauptschulen haben schon zwischen 2003 und 2010 mehr als ein Drittel ihrer Schüler verloren.

Um aber zumindest eine weiterführende Schule vor Ort zu sichern, lag es im Interesse die Kommunen, Angebote zu schaffen, die die Schulformgrenzen sprengten. Löhrmann versuchte zunächst, dieses Problem, das die schwarz-gelbe Landesregierung liegengelassen hatte, auf die hergebrachte Art zu lösen: per Konfrontation.

Ihr Projekt "Längeres gemeinsames Lernen" versuchte sie gegen die Opposition, mangels parlamentarischer Mehrheit aber mit der rechtlichen Krücke des Schulversuchs durchzudrücken; entsprechend wacklig war die juristische Basis. Eine geplante Gemeinschaftsschule in Finnentrop stoppte das Münsteraner Oberverwaltungsgericht, in Blankenheim zog das Ministerium selbst die Notbremse.

Das Projekt steckte in der Sackgasse, Löhrmanns Schulrevolution zerbröselte beim ersten ernsthaften Widerstand. Der entscheidende Schritt zu einer gesetzlichen Regelung gelang erst im Sommer 2011 mit Unterstützung der CDU, die ihrerseits seitens der eigenen Basis unter Druck geraten war, ihre starre Pro-Hauptschul-Politik der Ära Rüttgers aufzugeben.

Ergebnis: der "Schulfrieden", der das Konfrontationskonzept Gemeinschaftsschule zum Konsensmodell Sekundarschule fortentwickelte, die Hauptschulgarantie aus der Verfassung strich und die gesetzliche Garantie des gegliederten Schulwesens ausbaute.

Löhrmann hat bis auf die irrlichternde FDP und die in ihrem bildungspolitischen Radikalismus gefangene Linke alle wichtigen Akteure im Boot. Da macht es nicht viel aus, dass beispielsweise ihre Übereinstimmung mit den Kommunen, was das Ziel angeht (neue weiterführende Schulen vor Ort), die Divergenz über den Grund dafür verkleistert.

Auch am Dienstag wieder sagte die Schulministerin, längeres gemeinsames Lernen sei "der große Wunsch" der Kommunen. Zweifel daran legen nicht nur Äußerungen von Bürgermeistern nahe, denen es vor allem um den Erhalt einer Bildungs-Infrastruktur geht. Zweifel nähren auch die Daten des Ministeriums selbst — nur sieben der 42 neuen Sekundarschulen entstehen in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern, dort also, wo im Allgemeinen weiterhin überhaupt genug Schüler für ein komplettes gegliedertes Schulsystem vorhanden sein werden.

Bildungsforscher erwarten, dass die Sekundarschule wegen ihrer Attraktivität langfristig wie ein Staubsauger wirken könnte, der sich die anderen Schulformen (die sterbende Hauptschule, aber auch Real- und Gesamtschule) einverleibt — Ergebnis wäre ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasium plus Sekundarschule. Auf dem Land könnte schon bald vielerorts die Sekundarschule die einzige weiterführende Schulform sein.

Darin sieht etwa Dieter Neumann, Bildungsforscher an der Universität Lüneburg, eine Gefahr: "Weil die Sekundarschulen auch integriert, also ohne Differenzierung nach Leistung, unterrichten können, droht hier der Zustand, dass Eltern für ihre Kinder keine differenzierende Schule mehr wählen können."

Er halte es deshalb für falsch, das sich herausbildende zweigliedrige Schulsystem pädagogisch zu begründen, sagt Neumann: "Die eigentliche Begründung ist die Demografie. Das sollte man auch ehrlich sagen." Pädagogik hin, Demografie her — für die Not der Bürgermeister und den Missionseifer der Ministerin gibt es zumindest mittelfristig eine gemeinsame Lösung: die Sekundarschule.

Löhrmann hat ihre Sekundarschulen nicht wegen eines plötzlichen Booms der Reformpädagogik durchsetzen können, sondern weil sie, ganz grüne Realpolitikerin, erst eine Allianz mit den von Schwarz-Gelb enttäuschten Kommunen und dann mit der bildungspolitisch in Bedrängnis geratenen CDU geschmiedet hat. Zweckbündnisse aber, das zeigt die politische Erfahrung, tragen oft weiter als Liebesheiraten.

(jco/csr/rm)
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