SPD und Grüne starten Koalitionsverhandlungen Das kommt auf Rot-Grün in NRW zu

Düsseldorf · Am Dienstagabend nehmen SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen ihre Koalitionsverhandlungen auf. Wir geben einen Überblick über die dringendsten Baustellen für Rot-Grün.

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Am Dienstag nehmen SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen ihre Koalitionsverhandlungen auf. Der Erwartungsdruck ist immens: Anders als bisher hat Rot-Grün nach dem Wahlerfolg vom 13. Mai jetzt eine eigene Mehrheit, ist also nicht mehr auf Kompromisse mit anderen Parteien angewiesen.

Der politische Luxus ist auch eine Last: Wer alleine regiert, muss auch alleine verantworten, wie sich das Land in den nächsten fünf Jahren entwickelt. Arbeitsplätze, Verkehrsnetze, Schulden, Kriminalität und Schulen: Deutschlands größtes Bundesland muss in vielen Bereichen hart kämpfen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Die Prüfsteine des rot-grünen Koalitionsvertrages im Überblick:

Arbeitsmarkt

744.000 Menschen in NRW haben keinen Job. Während die Arbeitslosenquote hier zuletzt auf 8,3 Prozent stieg, sank sie bundesweit auf sieben Prozent. Womit sich in diesem Frühsommer ein altes Muster wiederholt: NRW leidet stärker unter Wirtschaftskrisen als andere Bundesländer und holt in guten Zeiten weniger auf. Das strapaziert auch die Staatskasse: Weniger Arbeitnehmer bedeuten weniger Steuereinnahmen und mehr Sozialausgaben. Mehr Menschen in gute Arbeit zu bekommen, ist also die wichtigste Aufgabe jeder Landesregierung.

In NRW hat sie besonders großen Einfluss darauf. Das Land ist Industriestandort Nummer eins in der Republik. Industrie bedeutet: viele Menschen in wenigen Unternehmen, die wiederum stark von der Politik abhängig sind. Das Bochumer Opel-Werk mit Steuergeld retten? Strompreis-Rabatte für energieintensive Unternehmen? Fördergelder von Firmen zurückholen, wenn sie wie Nokia danach trotzdem ihre Handyproduktion von Bochum nach Rumänien verlagern?

Der oberste IG-Metall-Chef im Land, Oliver Burkhard, will wegen Fragen wie diesen im neuen Koalitionsvertrag mehr über Industriepolitik lesen: "Die Industriepolitik geht zwischen den Ministerien unter. Die Ministerpräsidentin muss das Thema zur Chefsache machen und einen entsprechenden Stab in der Staatskanzlei ansiedeln", verlangt Burkhard. Nur so könnten die Kräfte von Schul- und Forschungspolitik, von Arbeitsmarkt-, Förder- und Energiepolitik wirksam gebündelt werden. "Das schuldet Rot-Grün dem Industrie-Standort NRW", meint Burkhard.

Energiepolitik

Energieintensive Unternehmen wie GEA, Voerdal, Opel und ThyssenKrupp zeigen: Arbeitsmarkt und Energiepolitik sind in NRW besonders verzahnt. In keinem Land verbrauchen die Unternehmen mehr Strom als in NRW. Der Ausstieg aus der Atomenergie stellt das Land deshalb vor zwei Herausforderungen: Erstens muss der Atomstrom mit mehr Kohle- und Gaskraft ersetzt werden, bis Wind- und Sonnenkraft ausreichend funktionieren. Sonst kann die Industrie sich nicht auf sicheren Strom verlassen und wandert ab. Zweitens wird der Strom mittelfristig teurer, weil Wind- und Solarstrom vorerst teurer als Atomstrom sein werden. Zu teuer darf Strom aber auch nicht werden, sonst wandert die Industrie ebenfalls ab.

Der Voerder Aluminiumproduzent Voerdal zum Beispiel ist schon unter den Kosten der Energiewende zusammengebrochen, der Düsseldorfer Mischkonzern GEA hat eine Zinkhütte geschlossen, ThyssenKrupp hat seine Krefelder Edelstahlproduktion nach Finnland verkauft. "Datteln muss ans Netz", fordern Arbeitgeber und Arbeitnehmer deshalb in seltener Einmütigkeit. "Datteln" steht für den teuersten Rohbau im Land: Fast eine Milliarde Euro hat der Stromriese Eon dort schon investiert und darf Europas modernstes Kohlekraftwerk trotzdem nicht fertigstellen. Die Rechtsgrundlage fehlt.

"Rot-Grün muss das Planungsrecht so ändern, dass Datteln endlich günstigen Strom produzieren kann", fordert Burkhard. NRW-Arbeitgeberpräsident Horst-Werner Maier-Hunke sieht in der Kraftwerkspolitik den Lackmus-Test für Rot-Grün: "Das Land muss die Voraussetzung für den Neubau konventioneller Kraftwerke schaffen", lautet eine seiner zentralen Erwartungen an den neuen Koalitionsvertrag. Die Industrie- und Handelskammern (IHK) schlagen sogar eine konkrete Formulierung für den Vertrag vor: "Die Landesregierung stellt die Versorgung mit Energie jederzeit verlässlich dar."

Umweltpolitik

Sorge bereitet der Industrie auch der wachsende Einfluss, den der grüne Umweltminister Johannes Remmel in der vergangenen Legislatur auf die Energiepolitik genommen hat. Nachdem Remmel mit der NRW-Energie-Agentur die dafür zuständige Ideenschmiede des Landes vom Wirtschafts- ins Umweltministerium überführen konnte, war sein Einfluss auf die Energiepolitik größer als die des dafür eigentlich zuständigen Wirtschafts- und Energieministers Harry Voigtsberger (SPD). Das Ergebnis war ein eigenes NRW-Klima-Gesetz, das noch strengere Vorgaben als der Bund formuliert.

Dieter Porschen von der IHK Mittlerer Niederrhein fordert, dass ein Zuviel des Guten im neuen Koalitionsvertrag ausgeschlossen wird: "Regionale Klimaschutzgesetze dürfen nicht dazu führen, dass Investitionen an anderen Standorten stattfinden." Klimaschutz-Vorgaben, die sich als wirkungslos herausgestellt haben, sollen aus IHK-Sicht wieder gestrichen werden.

Einzelhandel

Billig und ohne Parkplatznot einkaufen ist attraktiv. Aber Innenstädte ohne Geschäfte sind langweilig. Einkaufszentren wie das Centro in Oberhausen sind für Kommunen verlockend, weil dort auf einen Schlag viel Geld investiert wird. Problem: Sie ruinieren fast immer auch den innerstädtischen Einzelhandel und damit die Lebensqualität in den Nachbarkommunen. Der politische Wille ist längst parteiübergreifend gefunden: Sogenannte großflächige Einkaufszentren sollen nur noch erlaubt werden, wo sie an eine Stadt angebunden sind die Menschen also in die Stadt locken und nicht auf die grüne Wiese. Aber die handwerkliche Umsetzung fehlt noch: "Da kann die Koalition jetzt mal zeigen, dass sie auch Verwaltung kann", meint Peter Achten, Chef des Handelsverbandes in NRW.

Denn eigentlich müsse nur noch die Landesplanung entsprechend geändert werden. Dabei ist Eile geboten. Insider beobachten mit Argwohn, wie Investoren sich überall im Land jetzt schnell noch vor Toresschluss Einkaufszentren der ungewünschten Art genehmigen lassen wollen. Deshalb fordert der Handelsverband: "Rot-Grün muss sich im Koalitionsvertrag verpflichten, die Landesplanung innerhalb von drei Monaten zu ändern." Außerdem wünscht Achten sich ein Ende der politischen Gängelung beim Ladenschluss: "Keine Einschränkung von Montag bis Samstag und vier beliebige verkaufsoffene Sonntage im Jahr" das will der Handel im Koalitionsvertrag lesen.

Demografie

1972 übertraf die Zahl der Sterbefälle die Geburten in NRW zum ersten Mal seither geht die Schere immer weiter auseinander. Bis 2050 wird jeder Erwerbstätige doppelt soviele Ältere versorgen müssen wie heute mit Geld oder persönlichem Einsatz. Leider verteilt sich die demografische Last nicht gleichmäßig über das Land: Ländliche Gebiete und Städte wie Gladbeck oder Gelsenkirchen schrumpfen viel schneller als Düsseldorf oder Köln. Trotzdem brauchen die Menschen auch dort eine Kanalisation, Straßen und die Müllabfuhr. Kosten, die in stark schrumpfenden Kommunen auf immer weniger Schultern verteilt werden müssen, weshalb Gladbeck und Gelsenkirchen überproportional unter dem demografischen Abwärtstrend leiden.

Herwig Birg fordert deshalb ein Landesministerium für Demografie. "Das Problem wird von der Politik immer noch unterschätzt", sagt der emeritierte Professor aus Bielefeld, "NRW sollte im neuen Koalitionsvertrag mit klugen Maßnahmen die bundesweite Vorreiterrolle auf diesem Gebiet anstreben." Birg schlägt zum Beispiel vor, den kommunalen Finanzausgleich um einen demografischen Finanzausgleich zu ergänzen: Prosperierende Städte zahlen eine "Ablöseprämie" für jeden zugewanderten Bürger an diejenige Kommune, die den Steuerzahler verloren hat. Oder "Mütterquoten" als Ergänzung zur "Frauenquote": Wer Kinder hat, wird bei der Besetzung von Jobs bevorzugt. Birg: "Um solche und andere Vorschläge zu diskutieren, sollte NRW sich ein Max-Planck-Institut für Demografie-Forschung leisten."

Finanzen

Vieles, was NRW sich von Rot-Grün wünscht, kostet Geld. Und wenn das Land etwas nicht hat, dann ist das Geld: Im vergangenen Jahr lag die Neuverschuldung des Landes bei drei Milliarden Euro, im laufenden Jahr soll sie nach rot-grünen Plänen auf fast vier Milliarden Euro wachsen und 2013 um weitere 3,5 Milliarden. Rainer Kambeck vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) fordert das Gegenteil, nämlich eine sinkende Neuverschuldung. Er verweist auf die aktuelle Steuerschätzung, die dem Land erst vor wenigen Tagen Steuerzuwächse bis 2016 vorausgesagt hat. "Mit diesen Mehreinnahmen sollte es gelingen, die Neuverschuldung in den Jahren 2012 und 2013 zu reduzieren."

Um sich selbst zu disziplinieren, sollte Rot-Grün diesen Vorsatz im Koalitionsvertrag verankern, fordert der Wissenschaftler. Zusätzlich erwartet er im Koalitionsvertrag konkrete Vorgaben für den Bürokratieabbau: "Die Personalausgaben der Landesverwaltung wachsen seit Jahren überproportional, obwohl der technologische Fortschritt und die schrumpfende Bevölkerung in NRW eigentlich auch bei den Personalausgaben Einsparungen ermöglichen", begründet Kambeck seine Forderung. Für Arbeitgeber-Präsident Maier-Hunke sind "verbindliche Schritte zur Senkung der Neuverschuldung" sogar der erste Punkt in seinem Forderungskatalog an Rot-Grün.

Schule

Der Lehrerberuf war schon attraktiver: Zeitverträge, immer mehr Burn-out-Erkrankungen und Schwierigkeiten bei der Besetzung von Schulleiter-Posten, weil die Kandidaten den Verwaltungsaufwand scheuen. "Unser Schulsystem ist gut, wir müssen aber viel tun, damit es auch gut bleibt", fasst Peter Silbernagel, Chef des NRW-Philologenverbandes, die Lage zusammen.

Sein Vorschlag: eine ständige Bildungskonferenz als Beratungsgremium für das NRW-Schulministerium, in der Eltern, Lehrer, Wissenschaftler, Schulträger, Psychologen und Mediziner ihre Erfahrungen bündeln. Die NRW-Bildungskonferenz soll ein jährliches Gutachten jeweils zum Schuljahresende abgeben, das die Politik zwar zu nichts zwingt, das aber vom Ministerium öffentlich beantwortet werden muss. "Schulpolitik ist oft von Praxisferne geprägt. Ein solches Gremium belebt den öffentlichen Diskurs und verspricht kostengünstige Expertise", argumentiert Silbernagel.

Gesundheit

Mit ihren beiden wichtigsten Vorstößen ist NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) in der vergangenen Legislatur gescheitert: Das neue NRW-Nichtraucher-Schutzgesetz kam ebenso wenig zustande wie ein Verbot der E-Zigarette. Für Wilfried Jacobs, Chef der AOK Rheinland/Hamburg und damit der größten Krankenkasse im Land, sind beides ohnehin Nebenschauplätze.

Er erwartet vom neuen Koalitionsvertrag ganz andere Schwerpunkte in der Gesundheitspolitik: "Ausbau der Gesundheitsbildung und des Sportunterrichts in den Schulen" , macht er einen Vorschlag, wie Krafts Motto der "präventiven Sozialpolitik" auf den Bereich Gesundheit zu übertragen wäre. Außerdem fordert er ein generelles Verbot von Vier-Bett-Zimmern in NRW-Krankenhäusern: "Rund zehn Prozent der Patienten in NRW liegen immer noch in Vier-Bett-Zimmern", klagt Jacobs, "so etwas sollte sich eine nordrhein-westfälische Gesundheitspolitik nicht mehr leisten; zumal wir in NRW sowieso 10.000 Krankenhaus-Betten zu viel haben."

Verkehr

Nirgends in Deutschland ist Verkehrspolitik schwieriger als in NRW. Einerseits werden die Autobahnen des Landes aufgrund ihrer geografischen Lage mit gigantischen Durchgangsverkehren belastet. Andererseits bietet genau diese Lage die Chance, NRW als Europas Logistik-Drehscheibe zu etablieren; mit Zigtausend neuen Jobs wie denen im neuen Logistik-Zentrum von Amazon bei Rheinberg, wo der Internet-Riese gerade 2000 neue Stellen geschaffen hat.

Das Problem: Der rasant wachsende Verkehr wird in ein Straßennetz gepresst, das schon heute massiv überlastet ist. Städte wie Düsseldorf kollabieren regelmäßig mit Ansage, wenn größere Messen wie zuletzt die Drupa ins Haus stehen. Hinzu kommt: All der Verkehr fließt dann auch noch durch das am dichtesten besiedelte Bundesland der Republik. Entsprechend nehmen die Klagen der Bürger über Zug-, Flug- und Autobahnlärm schon heute dramatisch zu. In weiten Teilen des Landes sind gesundheitliche Schäden durch Verkehrslärm nachweisbar. Fazit: Das Verkehrsnetz in NRW muss ausgebaut werden, sonst kollabiert es logistisch. Und es muss leiser werden, sonst kollabiert es politisch.

Der Koalitionsvertrag sollte beiden Zielen den gleichen Rang einräumen. Einem Bundesland, das zur Logistik-Drehscheibe Europas werden will, stünde ein Koalitionsvertrag mit einem entsprechenden Service-Versprechen gut zu Gesicht: Etwa die Festlegung auf eine maximale Stau-Quote pro Jahr. Allerdings nur gepaart mit der Zusage, die Hälfte des Budgets in Lärmschutz zu investieren. Ein derart veredeltes Straßennetz würde einen Finanzierungsbeitrag von Nutzern und Anwohnern rechtfertigen.

Internet

Der erstaunliche Erfolg der Piraten-Partei über sämtliche Bevölkerungsschichten hinweg beweist: Die etablierten Parteien haben ein Thema verschlafen. Die digitale Revolution ist mehr als technologischer Fortschritt und erst recht keine reine Jugendbewegung. Das Internet hat die Formen und Möglichkeiten der Kommunikation so dramatisch erweitert, dass es inzwischen ganze Lebensbereiche verändert hat. Zum Beispiel die Wirtschaft, deren Wachstum seit fünf Jahren zu einem Viertel von der Internetökonomie getragen wird. "Die Internetwirtschaft steuert in Deutschland bereits mehr zum Bruttoinlandsprodukt bei, als die gesamte Landwirtschaft", rechnet Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein vor. Und beklagt, dass die Landwirtschaft trotzdem immer noch den größten Anteil aller Fördermittel erhält.

Heinemann fordert von Rot-Grün, dass man an den Hochschulen in NRW künftig auch Internetwirtschaft studieren kann. Außerdem den Ausbau der Internet-Infrastruktur in NRW, sprich: schnellere Netze. Und schließlich die Förderung von Lehrprogrammen für Bürger, die sich immer noch nicht im Netz bewegen können. Heinemann nennt sie "Internet-Analphabeten" und zählt fast ein Drittel der NRW-Bevölkerung dazu. Er fragt: "Wieso kommen 61 der 100 meistgenutzten Websites der Welt aus den USA und nicht eine einzige aus NRW? Wieso etabliert sich die deutsche Start-Up-Szene in Berlin-Mitte und nicht in Düsseldorf oder Köln?"

(RP)
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