NRW-Innenministerium über Corona-Protest „Zunehmende Radikalisierungstendenz bei Spaziergängern“

Düsseldorf · Nach Einschätzung des NRW-Innenministeriums grenzen sich die Teilnehmer der Proteste immer weniger nach rechts ab. Seit Beginn der Pandemie hat das Land zudem 1409 politische Straftaten im Zusammenhang mit Corona verzeichnet.

 Ein Teilnehmer trägt auf einer Demonstration gegen die gegen die aktuelle Corona-Politik ein Schild mit der Aufschrift „Nein zur Impfpflicht“.

Ein Teilnehmer trägt auf einer Demonstration gegen die gegen die aktuelle Corona-Politik ein Schild mit der Aufschrift „Nein zur Impfpflicht“.

Foto: dpa/Markus Scholz

Die sogenannten Spaziergänge gegen die Corona-Maßnahmen dürften nach Ansicht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums im Zuge der Diskussion über eine Impfpflicht noch einmal aggressiver werden. Eine Sprecherin von Minister Herbert Reul (CDU) bezeichnete die Diskussionen um eine Verschärfung der Corona-Schutzmaßnahmen sowie eine Impfpflicht als „emotional hochaufgeladen, was in jüngster Zeit zu einer weiteren Radikalisierung innerhalb der Szene geführt hat“.

Angesichts der dynamischen Entwicklung sei in den nächsten Wochen mit einem mindestens gleichbleibenden Zulauf für angemeldete und unangemeldete Proteste zu rechnen. Aufgrund aktueller politischer Entscheidungen könnten sowohl die Dynamik und Mobilisierung als auch die Emotionalisierung stark zunehmen. „Es muss damit gerechnet werden, dass auch die festgestellte Radikalisierungstendenz von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen anhält. Situative gewalttätige Verläufe müssen immer einkalkuliert werden“, so die Sprecherin.

Nach Angaben des Ministeriums versuchten Rechtsextremisten nach wie vor, auf die Protestszene Einfluss zu nehmen. „Es gibt immer weniger Abgrenzungsreflexe zum Rechtsex­tremismus“, so die Sprecherin. In Teilen der Protestszene seien Tendenzen zur Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust erkennbar. So trug ein Teilnehmer einer Protestveranstaltung am Samstag in Aachen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Impfung macht frei!“ in altdeutscher Schriftart – eine Anspielung auf den Satz „Arbeit macht frei“ an NS-Konzentrationslagern.

Laut Landesregierung greifen alle rechtsextremistischen Gruppierungen die Corona-Proteste auf, mobilisieren dazu in den sozialen Medien und nehmen auch selber an Versammlungen teil. Von den seit 11. Dezember durchgeführten 1492 Versammlungen waren dem Ministerium zufolge knapp zwei Drittel nicht angemeldet. Die Organisation dazu finde meistens über den Messengerdienst Telegram statt.

Bislang hätten die Rechtsextremisten in der Regel keinen steuernden Einfluss. Bei wenigen Versammlungen wirkten sie als Anmelder, so zuletzt am 22. Januar bei einer Veranstaltung von „Aufbruch Leverkusen e.V.“ mit rund 200 Teilnehmern. Auch in der Reichsbürgerszene werde zu Protesten gegen die Schutzmaßnahmen aufgerufen, etwa durch die Anhänger der Gruppierung Shaef. Diese hätten zuletzt am 2. Januar auf Twitter zur Teilnahme an den „Spaziergängen“ geworben. Am 24. Januar beteiligte sich ein sogenannter Reichsbürger an einer Versammlung in Gelsenkirchen, und im Zuge einer Versammlung am 18. Januar in Wesel gab sich ein „Reichsbürger“ bei der Kontrolle eines Maskenverstoßes als solcher den Polizisten zu erkennen.

Insgesamt registrierte das Land in den vergangenen beiden Jahren 1409 politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit Corona. Nach Angaben des Innenministeriums könne dieser Wert aber noch steigen, da die Erhebung für 2021 noch nicht abgeschlossen sei. 794 Straftaten – und damit mehr als eine pro Tag – richteten sich gegen Einzelpersonen wie etwa Mediziner.

Die Grünen-Innenexpertin Verena Schäffer zeigte sich alarmiert: „Aus meiner Sicht gibt es angesichts der zunehmenden Radikalisierung eine erhebliche Gefahr durch das Spektrum der sogenannten Corona-Leugner.“ Die Gewaltbereitschaft in Teilen der Szene führe auch in NRW zu Gewaltaufrufen gegen Ärzte, Medienschaffende, Politiker sowie Beschäftige bei Polizei und Ordnungsdiensten. „Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass die in wissenschaftlichen Studien schon vor der Pandemie festgestellte Gewaltbereitschaft und Gewaltakzeptanz unter Verschwörungsgläubigen auch zu Gewalttaten führt, wie in Idar-Oberstein.“ In der rheinland-pfälzischen Stadt war ein Tankstellenmitarbeiter von einem Gegner der Corona-Maßnahmen erschossen worden.

„Das muss die Landesregierung ernst nehmen und die potenziell Betroffenen bestmöglich schützen und unterstützen. Die Verschwörungsmythen, die häufig einhergehen mit antisemitischen und rassistischen Narrativen, werden auch nach der Pandemie vorhanden sein“, sagte die Grünen-Fraktionschefin.

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