NRW will die Verkehrswende. Wann und wie kommt denn der ländliche Raum vom Auto los?
Neuer Präsident der Landkreise in NRW Olaf Gericke „Auf dem Land braucht man das Auto“
Interview | Düsseldorf · Der neue höchste Vertreter der Landkreise in NRW warnt vor einem Machtkampf zwischen Stadt und Land und vor dem Verzicht auf Umgehungsstraßen. Und er sagt: Wenn jeder endlos gegen alles klagen kann, geht alles zu langsam voran.
Gericke Mein Grundsatz lautet: Bus und Bahn nicht verherrlichen und das Auto nicht verteufeln. Das Auto ist nach wie vor das Hauptverkehrsmittel – selbst in den Metropolen, und je kleiner die Stadt oder das Dorf, desto wichtiger ist es. Diese Lebensrealität können wir nicht ausblenden. Wenn wir wollen, dass es weniger genutzt wird, geht das nur, indem man den Menschen im ländlichen Raum viel bessere Angebote macht.
Was für welche?
Gericke Was den Preis angeht, ist das Deutschlandticket schon ein Anreiz. Aber es müssen viel mehr Busse und Bahnen fahren: Was nützt es mir, den Bus billiger zu machen, der nicht kommt? Oder das Bahnticket, wenn der Takt nur stündlich ist? Außerdem müssen ländliche Räume besser angebunden werden. Für den Ausbau der Infrastruktur müsste der Bund die Regionalisierungsmittel für die Länder mindestens verdoppeln.
Glauben Sie, dass Stadt und Land bei der Verkehrsentwicklung gut harmonieren?
Gericke Wir müssen sehr aufpassen, dass es nicht zu einem Gegeneinander von städtischen und ländlichen Regionen kommt. Die Debatte um das Auto macht deutlich, dass da Lebenswelten aufeinander prallen. Und in Nordrhein-Westfalen sind die Unterschiede im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders groß. Wir haben hier Ballungszentren, klassische urbane Milieus. Menschen, die gerne aufs Auto verzichten, weil sie einen gut ausgebauten Nahverkehr haben, die mit dem Lastenfahrrad überall hin kommen. Die kennen ländliches Leben überhaupt nicht. Aber auf dem Land brauchen sie das Auto, um einzukaufen, die Kinder zur Kita zu bringen und den alten Menschen zum Arzt. Landespolitik und Kommunalpolitik müssen dafür sorgen, dass die Unterschiede nicht zu einem Machtkampf zwischen Land und Stadt werden.
Sind Sie zufrieden mit dem Tempo bei der Reaktivierung alter Bahnstrecken?
Gericke Nein, überhaupt nicht. Die Planungsverfahren sind viel zu lang. Ein Beispiel: Auf der alten Westfälischen Landeseisenbahn reaktivieren die kommunalen Gesellschafter aus den Kreisen Soest, Warendorf und der Stadt Münster eine über 100 Jahre alte Bahnstrecke für den Personenverkehr. Die Trasse gibt es noch, darauf laufen sogar noch Güterverkehre. Trotzdem ist ein Riesenaufwand nötig mit zwei Planfeststellungsverfahren – eins eigens dafür, dass Züge in den Bahnhof Münster einfahren dürfen. Die Bundesregierung hat schon erkannt, dass das so nicht geht. Aber bis jetzt gibt es vom Bund nur politische Absichtserklärungen. Die müssen erstmal in Gesetze umgewandelt werden – da sind viele Konflikte noch nicht geklärt.
Sehr aufwändig sind auch Genehmigungsverfahren für Windräder. Bisher ging es mit dem Ausbau der Erneuerbaren nicht so schnell voran – warum sind Sie optimistisch, dass die Kreise das jetzt alles viel schneller schaffen?
Gericke Weil das jetzt unsere vordringliche Aufgabe ist. Und die Gründe, warum es bis jetzt so langsam vonstatten ging, lagen nicht an uns, also an den Genehmigungsbehörden. Da ging es um Umweltverträglichkeitsprüfungen, Artenschutzgutachten, Bürgerbeteiligung, und 75 Prozent der Windräder wurden beklagt. Jetzt werden die Güter-Abwägungen einfacher, weil die Bundesregierung festgelegt hat, dass die Bedeutung der Windkraft gegenüber anderen Belangen gestärkt wird.
Geklagt wird aber vermutlich weiterhin.
Gericke Da braucht es einen Kulturwechsel. Wir brauchen ein vernünftiges Mittelmaß bei Bürgerbeteiligung, Artenschutz, Umweltverträglichkeit. Manche wollen alles endlos beklagen können. Aber dann bleiben wir zu langsam.
Die Landesregierung will 1000 Windräder bis 2027 bauen. Stellt sie dafür auch die richtigen Weichen?
Gericke Diese Zahl in den Koalitionsvertrag zu schreiben war sicher ein Risiko. Ob wir das erreichen, kann im Moment noch niemand sagen. In den Landkreisen ist es jetzt unsere Hausaufgabe, mehr Personal an die Verfahren zu setzen und effektiver zu werden.
Windräder werden auf dem Land gebaut, nicht in den Städten. Sollte es einen Ausgleich dafür geben, dass die Dörfer diese Lasten der Energiewende schultern?
Gericke Das wäre jedenfalls nicht ungerecht, und darüber müssen wir sprechen. Die Kreise müssen Motor der Energiewende in NRW werden. Damit werden wir in der Landes- und Bundespolitik künftig eine viel größere Bedeutung haben. Und wenn es gelingt, dass die Menschen über Bürgergesellschaften an den Erträgen der Windräder beteiligt werden, dann verdienen sie vor Ort enorm an der Entwicklung mit. Beim Thema Fotovoltaik sind dafür natürlich die Großstädte stärker in der Verpflichtung. Es kann nicht sein, dass dort große Hallen- und Wandflächen ungenutzt bleiben und wir dafür jetzt auch noch unsere wertvollen Ackerflächen ungebremst zupflastern.
Die Bundesregierung hat sich zum Autobahn-Ausbau bekannt. Sind sie zufrieden damit?
Gericke Ja. Das ist ein klares Signal, dass es nun mit einem Ausbau von Straßen weitergeht. Die Verkehrsprognosen sagen uns nicht weniger, sondern mehr Auto- und Lkw-Verkehr voraus. Daran ändert auch die Antriebswende nichts: Mit E-Autos fahren wir umweltfreundlicher und emissionsärmer, aber trotzdem brauchen wir die Straßen.
Auch die Umgehungsstraßen, die wieder infrage gestellt werden?
Gericke Sicher. Meine Forderung lautet, dass diese Umgehungsstraßen, die über Jahre und Jahrzehnte geplant worden sind, jetzt auch gebaut werden. Vielleicht in manchen Fällen eine Nummer kleiner, das mag in Ordnung sein. Aber derzeit werden wichtige Straßenbauvorhaben nicht umgesetzt, weil Umwelt- und Verkehrsminister Oliver Krischer auf der Bremse steht.
Fürchten sie, dass der ländliche Raum bei der Wasserstoff-Infrastruktur vergessen wird?
Gericke Das Ziel muss es jedenfalls sein, dass da, wo Pipelines durch unser Land gehen, auch Möglichkeiten geschaffen werden, sich dezentral mit Wasserstoff zu versorgen. Wir haben ja nicht nur in den Ballungszentren viel Industrie: Im Unterschied zu anderen Bundesländern sitzen in NRW im ländlichen Raum sehr starke mittelständische Unternehmen. Da muss der Wasserstoff hin.
Welche Erwartungen haben Sie an den Flüchtlingsgipfel im Mai?
Gericke Dass es mehr Geld gibt, und zwar dynamisch. Der Bund operiert bis jetzt mit Festbeträgen. Wir brauchen aber dauerhaft und verlässlich mehr Geld. Allerdings nützt das nichts, wenn ich die Menschen nicht mehr unterbringen kann. Das heißt: Die Migration muss begrenzt werden. Deutschland nimmt wesentlich mehr Flüchtlinge auf als andere europäische Länder. Das war schon in der Flüchtlingskrise 2015 unser Problem, und das ist es auch jetzt. Das muss die Bundesregierung regeln. Es wird immer noch unterschätzt, wie angespannt die Lage in den Kommunen ist. Es sind doch schon überall Turnhallen belegt. Und Integration aus der Turnhalle heraus, das ist ja nicht gerade die Idealvorstellung.
Der Bevölkerungsschutz ist ein großes Thema für die Kreise. Hat das Land aus der Hochwasserkatastrophe von 2021 die richtigen Schlüsse gezogen?
Gericke Wir müssen noch gemeinsam mit dem Land daran arbeiten, aus einem Pegelstand eine Gefahrenlage abzuleiten. Am Rhein weiß man natürlich, was ein Pegelstand für die Anrainerstädte und Gemeinden bedeutet. Bei vielen andere Flüssen und Bächen, die auch zum reißenden Fluss werden können, weiß man das aber nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass wir zu einem Wasserstand Vorwarnungen bekommen, die wir in Katastrophenschutzmaßnahmen umsetzen können. Und ich setze auf die Landesregierung, dass sie in katastrophalen Lagen mehr steuern und einen Krisenstab einsetzen muss.
Wie läuft die Verständigung zwischen den Landkreisen und der Landesregierung?
Gericke Wir haben nicht immer so gute Drähte in eine Landesregierung gehabt. Wir fühlen uns jedenfalls verstanden.