Schauspiel Köln Zerrissen zwischen Scham und Wut

Köln · Das Schauspiel Köln zeigt Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“.

 Nicki von Tempelhoff (hinten) und Jörg Ratjen in Köln.

Nicki von Tempelhoff (hinten) und Jörg Ratjen in Köln.

Foto: Thomas Aurin

Als der Soziologe Didier Eribon nach dem Tod des Vaters in seine Heimatstadt Reims zurückkehrt, wird ihm plötzlich klar: Soziale Klassen spielen in westlichen Gesellschaften nach wie vor eine prägende Rolle. Klassenschranken sind manifest, kaum zu überbrücken. Um seine Identität als anerkannter Wissenschaftler und Homosexueller zu leben, musste er seine Herkunft verraten, alles hinter sich lassen. Sein Buch „Rückkehr nach Reims“, ein Hybrid zwischen autobiographischer Erzählung und soziologischer Studie, der auch eine Erklärung bietet für das Wiedererstarken des Rechtspopulismus, wurde auch in Deutschland viel diskutierter Bestseller und attraktiv für Bühnen-Adaptionen. Regisseur Thomas Jonigk ist am Schauspiel Köln den Weg der Emotionalisierung des Textes gegangen.

Im Bühnenbild von Lisa Däßler, die für die Bebilderung der Arbeiterklassen-Herkunft des Protagonisten den Industriehallen-Charme der Kölner Interimsspielstätte im Carlswerk erweitert, umtanzen sich zwei junge Männer. Jörg Ratjen, der mit ihrer Unterstützung die Hauptrolle übernimmt, lehnt an einer Stahlsäule und krümmt sich vor Lust. In der Folge gibt es viel Krümmen, Schreien, Wüten und Zetern, denn der Weg hinaus aus dem familiären Sinnzusammenhang ist natürlich kein einfacher.

Die Anlässe für emotionale Szenen sind alle im Text zu finden: Eribon schreibt von der Scham über seine sexuelle Neigung, beschreibt seinen Vater als zerrissenen, sprachlosen, dem Alkohol zugetanen, auch gewalttätigen Menschen. Wie seine Mutter hat er sich in der Fabrik kaputt geschuftet, um etwas zu sein.

Der Soziologe hat in seinem Text jedoch zu einer kühlen-distanzierten analytischen, stellenweise melancholischen Haltung gefunden. Die Inszenierung, die der Chronologie des Buches folgt, versucht dahinter zu blicken mit einer Vermutung: Das muss doch weh getan haben.

Am besten ist sie allerdings in den verfremdeten, überstilisierten Momenten. Wenn das Ensemble am Trikolore-Tisch ein Klischee- und Zerrbild der französischen Arbeiterschaft gibt, die bei Wein und Baguette genüsslich und in Zeitlupe populistische Parolen wiederkäut, dann fragt die Regie, ob das wirklich so einfach zu erklären ist: Dass sich eine Klasse, die früher links wählte, plötzlich vom Front National repräsentiert fühlt.

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