Interview „Fluchtgründe sind nicht gottgegeben“

Bielefeld · Manche Debatte hierzulande werde so geführt, als seien Flüchtlinge Sondermüll, beklagt die Theologin.

 13.12.2011 /   Die Siegener Superintendentin Annette Kurschus ist neue Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen  ___________________________ Copyright und FOTO: HANS-JUERGEN BAUER Veroeffentlichung ist honorarpflichtig + 7% MwSt. Tel. +49 (0) 0177 - 7292368 info@hansjuergenbauer.de/www.hansjuergenbauer.de

13.12.2011 / Die Siegener Superintendentin Annette Kurschus ist neue Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen ___________________________ Copyright und FOTO: HANS-JUERGEN BAUER Veroeffentlichung ist honorarpflichtig + 7% MwSt. Tel. +49 (0) 0177 - 7292368 info@hansjuergenbauer.de/www.hansjuergenbauer.de

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)/Bauer, Hans-Jürgen (hjba)

Die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen hat nicht nur die deutsche Gesellschaft vor neue Aufgaben gestellt. Auch die christlichen Kirchen finden darin neue Aufgaben und Bewährungsproben. Dazu gehört auch die Bedeutung des Kirchenasyls. Ein Gespräch mit Präses Annette Kurschuss (55), in deren westfälische Landeskirche es aktuell 28 Fälle von Kirchenasyl mit insgesamt 42 Personen gibt.

Das Kirchenasyl ist umstritten. Immer wieder wird es von Politikern in Frage gestellt. Welche Entwicklung zeichnet sich hier ab?

Kurschus Zunächst: Das Kirchenasyl als solches ist von der Innenministerkonferenz nicht in Frage gestellt worden. Menschlichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte sind in jedem Einzelfall zu respektieren. Daran orientiert sich die Flüchtlingsarbeit unserer Kirchengemeinden und der Diakonie grundsätzlich und – in besonderen Ausnahmefällen – auch bei Kirchenasylen.

Sie beschreiben das Kirchasyl als einen Platz, der eine Atempause gewährt – aber kein rechtsfreier Raum sei. Das klingt fast nach einer Durchgangsstation ...

Kurschus Eine notwendige Atempause, wie die Erfahrung zeigt. Das Kirchenasyl als ultima ratio ist eine immer sorgfältig geprüfte und verantwortlich abgewogene Möglichkeit. Das Zeitfenster, dessen Regeln sehr klar definiert sind, stärkt den Rechtsstaat sogar, weil es in den meisten Fällen dem Recht zum Durchbruch verhilft.

Würden Sie die Kirche in unserer Zeit auch für alle Gläubigen als eine Art „Atempause“ bezeichnen?

Kurschus Wo Leistung, Coolness, Fitness eine übermächtige Rolle spielen, wo die angestrengte Jagd nach immer mehr Geltung und Anerkennung rastlos und atemlos macht und die Grundlagen des Lebens zerstört, da kann die Gewissheit, dass Gott mich bedingungslos anerkennt, tatsächlich eine entlastende „Atempause“ verschaffen. Sie bedeutet nun aber gerade nicht den beruhigten und tatenlosen Rückzug aus der bisweilen hoch anstrengenden und gefährdeten Welt, sondern befreit – im Gegenteil – dazu, von der Sorge um sich selbst abzusehen und sich engagiert für das Wohl anderer Menschen einzusetzen.

Wie politisch muss und darf Kirche gegenwärtig sein?

Kurschus Die Unterscheidung von Gott und Mensch hochzuhalten, ist die vornehmste Aufgabe von Theologie und Kirche zu allen Zeiten. Kein Mensch darf über andere Menschen verfügen und kein Mensch politischer Willkür ausgeliefert werden. Gott sei Dank hält unsere Verfassung dies in Artikel 1,1 fest: Die Würde des Menschen ist unantastbar, und die Gewissens-, Meinungs- und positive wie negative Glaubensfreiheit werden in den Grundartikeln geschützt. Aber in den meisten Ländern der Welt ist die Wirklichkeit anders. Und manche Debatte wird auch hierzulande über den rechtlichen Status von Flüchtlingen geführt, als seien Flüchtlinge Sondermüll. Dabei wird davon abgelenkt, dass die Fluchtgründe nicht gottgegeben, sondern menschengemacht sind. Diese Unterschiede und Zusammenhänge zu benennen, ist biblisches Kernanliegen und eckt politisch an – zu allen Zeiten.

Was hat sich im kirchlichen Leben verändert – seit der Zeit Ihres Vikariats?

Kurschus Derzeit verändert sich unsere Welt durch den technischen Fortschritt, durch Internet und Digitalisierung so stark wie vielleicht seit Jahrhunderten nicht mehr. Das spüren wir auch in der Kirche. Die Art, wie Menschen leben, arbeiten, schreiben und kommunizieren; die Formen, in denen sie musizieren, singen, beten und glauben, ändern sich. Kirche wird kleiner, aber deshalb nicht unbedeutender. Sie bleibt gefragt. Vor allem an den Schwellen und Rändern des Lebens. Zugleich muss sie sich vor Vereinnahmung schützen, wie etwa jüngst die Debatte um das Kreuz in öffentlichen Amtsstuben zeigte. Die Bereitschaft zu dauerhaftem ehrenamtlichen Engagement nimmt deutlich ab. Dagegen wächst die Begeisterung für gezieltes kirchliches Engagement auf Zeit.

Stellen Sie sich manchmal die Frage, was Jesus gegenwärtig tun würde? Und dass uns für manche Taten möglicherweise der Mut fehlt?

Kurschus Mit der schlichten Frage Martin Niemöllers: „Was würde Jesus dazu sagen?“ haben Christen und Christinnen immer wieder Orientierung gesucht für ihr aktuelles Reden und Handeln. Dass wir die Rettung der thailändischen Jungen aus der Höhle mit Herzklopfen verfolgten, war großartig. Was aber würde Jesus sagen zu der verbreiteten Gleichgültigkeit in Europa gegenüber den toten Flüchtlingen im Mittelmeer?

Bedarf es wieder einer mutigeren Theologie, die vielleicht das Revolutionäre des Evangeliums herausstellt?

Kurschus Klare Positionen und theologisch begründetes eindeutiges Handeln erregen vielfach Widerspruch. Kritik und Vorwürfe werden nicht zufällig dort laut, wo „das Revolutionäre des Evangeliums“ konkrete Folgen hat. Zugleich gilt aber auch: Oft ist die Wirklichkeit so komplex und vielschichtig, dass man ihr weder mit Vereinfachung noch mit Zuspitzung gerecht werden kann. Zwischentöne und Kompromisse sind unvermeidlich und notwendig; vorsichtige und abwägende Stimmen müssen Gehör finden. Gerade in unserer von den Medien bestimmten Welt ist es wichtig, mit Worten und Bildern sorgsam umzugehen.

Welche Gefahr droht mit dem Stimmenzuwachs der AfD, und wie geht die Kirche mit AfD-Wählern um, die sich auch in Kirchengemeinden engagieren?

Kurschus Was lange selbstverständlich war, scheint zu bröckeln: Zivile Umgangsformen. Ein fairer Diskurs. Gegenseitiger Respekt, auch bei abweichenden Meinungen. Die Hemmschwelle für Beleidigungen und Verleumdungen ist gesunken. Es besteht die Gefahr, dass populistische Tendenzen mit ebensolchen Mitteln bekämpft werden – verbale Aufrüstung, menschenverachtende Sprache, zum Beispiel „Asyltourismus“. Der Bundespräsident hat mit Recht zu einer sorgsamen und respektvollen Sprache aufgerufen. Für den Umgang mit AfD-Wählern gilt: Nicht per se ausgrenzen, aber auch nicht einfach wirken lassen. Gespräche führen, nach Ursachen und Zusammenhängen fragen. Deutlich und unmissverständlich benennen, dass das Programm der AfD und der christliche Glaube im Widerspruch zueinander stehen. Wo Toleranz keine Rolle mehr spielt in der Begegnung mit Andersgläubigen; wo Humanität, Barmherzigkeit und Hilfeleistung in ihr Gegenteil verkehrt werden im Umgang mit Geflüchteten, wird der Kern des Evangeliums verraten.

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