Aktion in Düsseldorf Theaterbesuche sind gesund

Ute Steindor ist Kinderärztin in Garath. Und sie beteiligt sich an dem Programm „Theater auf Rezept“. Sie kann Patienten Gutscheine für Inszenierungen im Jungen Schauspielhaus schenken.

 Kinderärztin Ute Steindor in ihrer Praxis in Garath.

Kinderärztin Ute Steindor in ihrer Praxis in Garath.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Die Sprechstunde von Ute Steindor ist schon lange vorbei, als ein kleiner Junge durch die Praxisräume läuft. Die Kinderärztin hat vergessen, die Tür abzuschließen. Das Kind ist nur halb-munter, deswegen ist seine Mutter mit ihm gekommen. „Frau Doktor, er hat Fieber, und die Notfallambulanz ist so weit weg. Können Sie helfen? Geht schnell.“ Frau Doktor hilft. Selbstverständlich. Sie lächelt und signalisiert der Frau, sie störe nicht, obwohl es so ist.

Ute Steindor arbeitet seit 27 Jahren in Garath. Ihre Patienten gehen oft unkonventionelle Wege, weil ihr Leben schwierig verläuft. Armut, Ausgrenzung und fehlende Anpassungsbereitschaft verbiegen viele Biografien und das Sozialverhalten der Menschen. Sie wissen es nicht besser, und manchmal wollen sie es auch nicht besser wissen. Also verschreibt Ute Steindor den Kindern Ergotherapien, wenngleich sie von der Wirksamkeit eines anderen Mittels weit mehr überzeugt ist. „Das Theater kann Kinder und Jugendlichen dazu bringen zu erkennen, was in ihnen steckt. Dann ändert sich auch etwas.“

Die Ärztin ist daher hocherfreut, dass das Schauspielhaus ein Projekt reaktiviert hat, mit welchem sie schon vor zehn Jahren gute Erfahrungen gesammelt hat. Seit Beginn des Jahres erhalten Düsseldorfer Kinderarztpraxen auf Wunsch Theatergutscheine, um sie an ihre Patienten zu verschenken. Ute Steindor hat ihre 25 Tickets in kurzer Zeit abgegeben. „Ich könnte ohne Probleme 50 Karten pro Quartal verteilen.“ Zwei Gutscheine bekamen die Kinder einer Familie, die aus dem Südsudan nach Deutschland geflohen ist und jetzt in Garath lebt. Das Mädchen ist zehn, sein Bruder acht Jahre alt. „Ihnen gilt Bildung als hohes Gut. Als sie nach Deutschland kamen, konnten sie kaum glauben, dass sie hier zur Schule gehen dürfen, ja sogar müssen.“

Die Freude über das unverhoffte Geschenk war groß. „Dabei ist die ganze Sache für die Kinder und auch die Mutter abstrakt. Sie waren noch nie im Jungen Schauspiel, kennen die Stücke nicht und müssen warten, bis die neue Spielzeit beginnt“, sagt Steindor. „Dennoch haben sie die Bedeutung dessen, was ihnen das Theater geben kann, sofort erkannt.“ Ein Minimum dieser Wertschätzung ist neben Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der Kinder, und die Ärztin staunt stets aufs Neue, dass manche Jugendliche diese Tugenden in sich tragen, ohne, dass es ihnen jemand beigebracht hat. „Die kleinen Kinder kommen mit ihren großen Geschwistern in meine Praxis, die kaum älter sind, weil die Mutter mit Depressionen auf dem Sofa liegt oder Tag und Nacht arbeitet, um das Geld zu verdienen. Diese Selbstständigkeit sehr junger Menschen erlebe ich mit deutschen und nicht-deutschen Familien.“

Wenn es ihre Zeit zulässt, erzählt Ute Steindor den Kindern und Jugendlichen vom doppelten Lottchen und vom kleinen Prinzen. Von der abenteuerlichen Welt des Theaterspiels, die dennoch mit unserer verbunden ist, und sie erzählt von der Schönheit der Sprache, um deren Wohl sie sich sorgt. Wie zur Warnung hat sie im Wartezimmer Plakate aufgehängt, die die Kraft der Bücher und die Freude am Lesen hochhalten. „Die Familien verlieren ihre Kommunikationsfähigkeit. Die Eltern kleben an den Handys fest. Sie ignorieren ihre Kinder oder setzen sie vor den Fernseher. Ich sage den Müttern: Sprecht mit euren Kindern. Darum heißt es Mutter-Sprache. Erst die Sprache verleiht eurem Leben Sicherheit.“

Ute Steindor ist in einem Hochhaus groß geworden, sie teilte sich das Kinderzimmer mit ihrem Bruder und hatte dennoch nie den Eindruck, es fehle etwas. „Wir sind ins Theater gegangen, wurden zum Lesen und zum freien Denken animiert. Das kann einem keiner nehmen.“ Es wäre doch schön, sagt sie, wenn die Kultur diese Lebensertüchtigung dort übernähme, wo Eltern versagen. „Theater müsste es nicht nur auf Rezept geben, sondern als aufsuchende Arbeit. Theaterleute als Streetworker – das wär’s doch.“

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