Schriftstellerin Juli Zeh wirft Merkel infantiles Menschenbild vor

Düsseldorf · Anlässlich der Uraufführung ihres Stückes "Mutti" hat Schriftstellerin Juli Zeh Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein "infantiles Menschenbild" vorgeworfen. "Sie geht nicht von einem Durchschnittsbürger aus, der als Bürger angesprochen werden möchte", sagte Zeh im Interview mit unserer Redaktion.

 Juli Zeh hat ein Stück über Angela Merkel geschrieben.

Juli Zeh hat ein Stück über Angela Merkel geschrieben.

Foto: dpa, Kay Nietfeld

Was halten Sie von Angela Merkel?

Zeh Die Politikerin sehe ich kritisch, weil ich glaube, dass sie dem Klima in Deutschland schadet. Sie hat die Demokratie durch ihre eigene Art der Technokratie ersetzt und hält es nicht für ihre Aufgabe, Politik an die Bürger zu vermitteln. Sie scheint zu glauben, und sie hat das auch schon so formuliert, dass die Bürger von Politik nichts wissen wollen. In Teilen stimmt das sicher auch. Aber Demokratie funktioniert nur, wenn sich auch die beteiligen, die von Politik nichts wissen wollen. Also muss Politik immer transparent sein. Wir schaffen ja auch nicht die Wahlen ab, weil die Wahlbeteiligung gering ist. Mit dem mangelnden Interesse zu argumentieren, ist undemokratisch.

Sie fordern also, dass Politiker nicht nur regieren, sondern ihr Tun auch interessant machen?

Zeh Vor allem müssen sie ihr Handeln transparent machen. Und dann möglichst auch so verständlich und spannend darüber sprechen, dass die Bürger sich dafür interessieren. Bei Angela Merkel habe ich aber das Gefühl, dass sie ein sehr infantiles Menschenbild hat. Sie geht nicht von einem Durchschnittsbürger aus, der als Bürger angesprochen werden möchte. Sie benutzt nicht einmal das Wort, sie spricht immer von "den Menschen in unserem Land". Das ist eine arrogante Formulierung, denn Frau Merkel ist auch ein Mensch in diesem Land. Sie muss nicht in die Knie gehen und Politik erklären, als spräche sie zu Kindern. Sie sollte den intelligenten und mündigen Bürger voraussetzen.

Ist Merkels Haltung wirklich arrogant oder nur realistisch?

Zeh Vielleicht ist sie sogar realistisch — und dennoch ist sie falsch. Man muss Politik immer vor einem Fluchtpunkt betrachten. Ich habe nichts gegen Pragmatismus in Detailfragen und auch nichts gegen Realismus in der Politik. Aber nach meinem Verständnis von Politik müssen wir immer auch in längeren Linien denken und sogar von Utopien sprechen, auch wenn das aus der Mode gekommen ist. Eine solche Utopie ist der mündige Bürger. Der muss selbst dann angesprochen werden, wenn es ihn nicht gibt, weil man ihn genau dadurch erschafft. Zu sagen, die Leute sind eh blöd, ist eine Absage an unsere Staatsform. In unserem Grundgesetz steht, dass das Volk die Staatsgewalt trägt. Das funktioniert nicht, wenn man sagt: Das Volk ist dumm und desinteressiert, es kann ruhig zuhause bleiben und sich die Fingernägel lackieren.

In Ihrem Stück scheint mir aber auch Bewunderung mitzuschwingen - zumindest für die Zähigkeit einer Politikerin.

Zeh Ja, ich bewundere Angela Merkel menschlich für viele Dinge. Ich glaube, dass sie sehr schlau ist, sehr intelligent, eine starke Frau. Anders als viele andere "Menschen in diesem Land" achte ich Politiker und bewundere Menschen, die in der Lage sind, das politische Spiel über lange Zeit mitzuspielen. Die leisten harte Arbeit, werden dafür nicht gut bezahlt und Angela Merkel ist ganz bestimmt eine Person, die ihre Aufgaben mit vollem Einsatz angeht und wirklich versucht, die beste Lösung für Probleme zu finden. Aber sie versteht nicht, dass Demokratie kein Verfahren zur Ermittlung bester Lösungen ist und dass vor allem sie nicht die Person ist, die immer weiß, was das Beste ist. Das sind Unfehlbarkeitsideologien. Es gibt in der Politik überhaupt keine besten Lösungen, sondern nur von der Mehrheit gewollte Lösungen.

Hat es denn Einfluss auf das Klima in Deutschland, dass sich mit Angela Merkel eine Frau so lange im Kanzleramt hält?

Zeh Ich kann keinen Einfluss bemerken, denn es gehört ja zum Persönlichkeitsbild von Angela Merkel, dass sie nicht mit Rollenmustern agiert. Sie handelt so weit wie möglich persönlichkeitsfrei, versucht sich nicht, als Frau oder als Ostdeutsche zu inszenieren. Damit will ich nicht sagen, dass sie nicht weiblich sei, aber sie regiert nicht mit einem betont weiblichen Politikstil. Trotzdem ist es natürlich gut, dass eine Frau in diesem Amt ist.

Ist es nicht vielleicht sogar besser für die Sache der Frauen, wenn eine Kanzlerin einfach ihre Arbeit tut?

Zeh Da stößt man an die Grundfrage, ob Gleichberechtigung bedeutet, dass Frauen handeln wie Männer oder ob es bedeutet, dass auch ein weiblicher Stil die gleiche Chance erhält. Aber das sind Genderfragen, über die ich zu wenig nachdenke. Ich ärger mich über die offensichtlichen Benachteiligungen von Frauen, die philosophischen Argumentationslinien habe ich nicht alle durchdacht.

In Ihrem Stück schicken Sie Angela Merkel mit einigen Spitzenfiguren aus ihrem Kabinett in eine Gruppentherapie — also in eine Situation, in der es um den Menschen hinter der Rolle gehen sollte, aber gibt es den überhaupt?

Zeh Es geht in meinem Stück tatsächlich nicht in erster Linie um Politik, sondern um den Unterschied zwischen Rolle und Authentizität — und die Frage, ob es diesen Unterschied überhaupt gibt. Wir reden ja seit Erfindung des virtuellen Raums sehr viel über Rollen, Inszenierung und setzen das in Kontrast zu einer Idee von dem authentischen Menschen, der "dahinter" steht. Als gäbe es eine Art Mauer, hinter der sich das Echte verbirgt. Meine These ist, dass das nicht die richtige Betrachtung ist, dass wir die Summe vieler Rollen sind und dass Politiker aufgrund ihres Berufs, der wenig Zeit für Privates lässt, immer in derselben Rolle stecken.

Der Durchschnittsbürger wechselt um 17 Uhr die Rolle vom Angestellten zum Familienvater, der Politiker bleibt öffentliche Person?

Zeh Genau, der Politiker hat nicht dieselbe Chance auf Vielschichtigkeit wie Leute, die andere Jobs machen. Das Performative ist in der Politik dazu noch sehr stark betont, Politiker müssen sich ständig inszenieren, weil sie ständig angeschaut werden. Auch wenn der Durchschnittsbürger mal bei einem Geburtstag eine Rede hält oder mal gefilmt wird, verändert er sein Auftreten, dann bekommt er schwitzige Hände und nimmt eine andere Haltung an, das ist bei Politikern sehr häufig so.

Sie schreiben in Ihrem Stück "Performance ist die Kunstform des fortgeschrittenen Kapitalismus", wir werden also alle zu Darstellern im eigenen Leben?

Zeh Der Kapitalismus zwingt uns zur Inszenierung, weil wir ständig angehalten sind, etwas zu verkaufen — vor allem uns selbst. Berufsleben, aber längst auch Privatleben, ist stark durchdrungen von ökonomischen Denk- und Handelsweisen. An Schulen und Unis wird permanent gesagt: Ihr müsst Euch präsentieren, ihr müsst Euch zeigen, ihr müsst Euch gut verkaufen, sonst bringt ihr es zu nichts, und zwar bis hinein ins Intime, Sexuelle. Jeder soll performen, eine gute Figur machen. Das ist die kapitalistische Mentalität.

Das würde kein Mensch aushalten.

Zeh Bislang schon. Erst in jüngster Zeit artikulieren Menschen Unbehagen mit diesem Lebensstil. Auf einmal gibt es Burn out — und diese Krankheit wird ja nicht ausgelöst, weil man zu viel arbeitet, sondern sie ist eine Stressreaktion darauf, dass man zur permanenten Selbstinszenierung gezwungen ist. Kaum etwas ist so anstrengend für Menschen, wie unter Beobachtung zu stehen. Das laugt uns aus. Aber es gibt noch immer genügend Menschen, die sich Selbstoptimierung verordnen und nicht einsehen, dass das "noch gesünder, noch fitter" auf Dauer nicht glücklich macht.

Angela Merkel als Technokratin zu porträtieren, ist allerdings nicht neu.

Zeh Nein, absolut nicht. Angela Merkel ist für uns auch keine Schatzkiste, die wir knacken, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ich glaube überhaupt nicht an überraschende Erkenntnisse, wir sind auch nicht angetreten, um ein Enthüllungsstück auf die Bühne zu bringen.

Sondern?

Zeh Wir wollen mit Angela Merkel und ihrem Regierungsstil etwas über die zeitgenössischen Bedingungen von Politik erzählen.

Wir haben die Politiker, die wir verdienen?

Zeh Ja, aber das ist auch ein Wechselspiel, die Gesellschaft durchlebt mit einem langjährigen Regierungschef einen Prozess wechselseitiger Erziehung. Auch Helmut Kohl hat Deutschland geprägt, wir haben ihn gewählt, aber es entstand auch ein weit verbreiteter Kohlismus. Das ist mit Merkel auch so. Sie ist Ikone eines Zeitgeistes geworden.

Sie ist die Kanzlerin für eine Gesellschaft, die hauptsächlich in Ruhe gelassen werden will?

Zeh Das ist Merkels These. Aber die bestreite ich. Es gibt Probleme, und die sind groß und wichtig, und da ist es nicht die Frage, ob eine Gesellschaft in Ruhe gelassen werden will, sondern Politik muss dafür werben, dass die Bürger sich interessieren und einmischen. Merkel ist eine wahnsinnig bequeme Regierungschefin, weil sie den Menschen signalisiert, dass sie sich nicht anstrengen müssen. Natürlich wählt der Mensch immer die kalorienärmste Variante, und Merkel ist das politische Wellness-Programm, aber das reicht für die Gegenwart nicht.

Juli Zeh will nicht in Ruhe gelassen werden — was motiviert Sie, sich einzumischen?

Zeh Dass ich mich über etwas ärgere oder mir wegen etwas Sorgen mache. Ich habe nach dem 11. September das Gefühl bekommen, dass ich aufgerufen bin, mich einzumischen. Davor war auch ich Politikkonsument. Ich glaube, dass sich viele Leute über gewisse Dinge aufregen, aber dann wissen sie nicht, was sie tun sollen. Ich habe als Autorin das Privileg, mich artikulieren zu können und zumindest teilweise auch gehört zu werden. Und so spüre ich die Pflicht, das auch zu tun.

(csi)
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