Literaturpreis für Esther Kinsky Eine würdige Preisträgerin

Düsseldorf · Der mit 20.000 Euro dotierte Düsseldorfer Literaturpreis geht an Esther Kinsky. Das ist eine ausgezeichnete Entscheidung.

Esther Kinsky bekommt den Düsseldorfer Literaturpreis, und da möchte man sofort ganz herzlich gratulieren. Zuerst natürlich der Autorin, aber eben nicht nur, sondern auch und unbedingt der Stadt, denn das ist eine sehr gute Wahl. Die 61 Jahre alte Schriftstellerin, die in Engelskirchen geboren wurde, ist eine der interessantesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihrer Prosa und Lyrik erschließt sie ihren Lesern die Welt, sie schärft ihnen buchstäblich die Sinne und öffnet ihnen die Augen.

Kinsky hat eine eigene Kunstform geschaffen, den sogenannten Geländeroman; diese Gattungsbezeichnung gab sie ihrem neuen, in dieser Woche erschienenen Werk "Hain". Der Geländeroman gehört entfernt in den Bereich des Nature Writings, das vor allem in England und Amerika populär ist. Wie der Begriff Gelände in Abgrenzung zum Begriff der Natur aber erahnen lässt, gibt er sich neutral und kühl, er ist frei von romantischen Zuschreibungen, von Landlust und Schwärmerei. Der Roman "Hain", der von der Literaturpreis-Jury besonders hervorgehoben wird, erzählt von einer Frau, deren Mann vor kurzem gestorben ist. Sie begibt sich auf eine drei Monate währende Trauerreise nach Olevani Romano, südlich von Rom gelegen. Was sie dort tut? Schauen. Und Gehen. Sie erkundet den Grenzbereich zwischen Sichtbar und Unscheinbar, sie präzisiert ihre Sprache mit Hilfe der Phänomene des Übergangs. Man liest also von der Brache, vom Marschland, vom Hain und vom Gehölz, von Baumgruppen und Böschungen, und man fragt sich, wie viele Begriffe es eigentlich gibt für all das, über das unser Blick zumeist hinweggeht. Und was man noch denkt, ist dieses: Was ist das für eine tolle Sprache, in der es so viele Wörter gibt!

Esther Kinsky ist die Dichterin des Transit. Das ist sowohl wörtlich zu verstehen, weil sie sich dem Randständigen widmet. Es geht ihr dabei aber auch im übertragenen Sinn um den Übergang, denn aus der Beschreibung des Abseitigen ergeben sich Verbindungen in die Vergangenheit, zu den Toten, den Vorfahren, Ahnen und Vätern. In ihrem Gedichtband "Am kalten Hang" findet sich die Zeile, die wie ein Motto für das Werk von Esther Kinsky anmutet: "was hat / die landschaft zu sagen im vorüberzucken von schmutz und verwischten spuren."

Esther Kinsky sucht nach den Fährten, an deren Ende die Epochen und Generationen zusammengeführt werden. Ihre Poetik des Raums weitet sich in die zeitliche Dimension. Sie entziffert jene Texte, die den Erscheinungen eingeschrieben sind. Die meisten von uns können diese Ur-Texte gar nicht sehen, geschweige denn lesen. Kinsky lauscht auf zarte Schwingungen, die auf einen Klang verweisen, der das ist, was wir Leben nennen. "Sommerfrische" sollte man lesen, das schmale Buch aus dem Jahr 2010, in dem sie von einer Ferienkolonie in Südost-Ungarn erzählt. Die Hitze flirrt, dieses Flirren macht Kinsky geradezu physisch erfahrbar, und die Zeit scheint stillzustehen, erstickt von der Wärme. Das ist eine Laborsituation für Kinsky, ein postkommunistisches Ungefähr. Sie widmet sich einer Gesellschaft im Übergang, und dass sie im Wandel des politischen Systems einerseits und im Vorschein sich ändernder privater Verhältnisse andererseits die Poesie entdeckt, ist das menschliche Moment dieser Dichtung. Im Hintergrund der Szenerie schreiten Pfauen einher; sie sind schmutzig und wirken ein wenig gerupft, aber sie sind noch da.

Esther Kinsky erkundet und erschließt die Gegenwart, und im Gepäck hat sie "Das sanfte Gesetz" von Adalbert Stifter und einige Schriften des Naturphilosophen Henry David Thoreau, von dem sie im Übrigen sehr schöne Betrachtungen unter dem Titel "Lob der Wildnis" übersetzt hat. Sie verbindet die Tradition mit dem unmittelbar Gegenwärtigen. Großartig ist auch der Roman "Am Fluss" (2014): Über Hunderte Kilometer folgt Kinsky dem Themse-Zufluss Lea durch die Randzonen Londons, durch Marschland und prekäre Stadtteile, und der titelgebende Fluss wird allmählich zum Strom der Worte. Kinskys Sprache ist immer auch ein phonetisches Wunder. Kinsky reiht schnalzende Konsonanten und atmende Vokale aneinander, ihre Sätze haben einen Sound, man kann sich ihm ergeben. Kinsky ist im Grunde Musikerin, statt Noten benutzt sie Buchstaben.

Sie übersetzt ja auch, aus dem Polnischen und Russischen, die Bücher von Olga Tokarczuk und Joanna Bator etwa, und soeben ist der in der englischen Hauptstadt spielende Roman "Am Fluss" ins Englische übertragen worden. Übersetzen, auch so ein Wort: Es bedeutet bei Esther Kinsky, die Erfahrung zu teilen, ein Mensch zu sein.

Der Düsseldorfer Literaturpreis geht an eine große europäische Autorin.

(hols)
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