Nouveau Cirque Die Gegenwart in einer Kniekehle

Die australische Compagnie Circa verblüfft das Publikum mit ihrem Programm „Humans“ beim Düsseldorf-Festival.

 Der Mensch als mehrdimensionales Erlebnis: Szene aus dem Stück „Humans“.

Der Mensch als mehrdimensionales Erlebnis: Szene aus dem Stück „Humans“.

Foto: Pedro Greig

Es gibt Sequenzen, da zischt es mächtig im Publikum, was während einer künstlerischen Darbietung ungehörig ist, aber in diesem Fall der Gesundheit dient, denn die Anspannung muss ja irgendwo hin. Es liegt an den Artisten von „Circa“. Sie verdrehen ihre Gliedmaßen, als habe man ihnen die Knochen gestohlen. Sie springen mit den Knien, spazieren auf Köpfen und stürzen im Spagat in die Tiefe. Mit ihren Kunststücken kippt die Welt oder heilt sie dort, wo sie aus den Fugen geraten ist. Es ist ein Abend politisch kolorierter Artistik, die bedrohliche Momente ebenso abbildet wie Heiterkeit und Eintracht; das Menschsein und die Menschlichkeit sind die Themen dieser unerschrockenen Frauen und Männer. Da darf man als Zuschauer vor lauter Herzklopfen schon mal Druck ablassen.

Die australische Compagnie Circa war mit ihrem Programm „Humans“, Menschen, zum ersten Mal in Deutschland und zu Gast beim Düsseldorf-Festival. Dessen Intendanten Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen sind inzwischen Spezialisten für den Nouveau Cirque, den zeitgenössischen Zirkus. Zielsicher erkennen sie, wer unter den Avantgardisten besonders hell leuchtet. Diese Helden wiederum greifen ihrerseits nach den Sternen, indem sie körperliche Höchstleistungen vorantreiben und immer kühnere Bündnisse mit anderen Disziplinen eingehen. Wenn Oxenfort und Dahmen also einmal im Jahr ihre Schatzkiste öffnen und die übers Jahr errungene Beute präsentieren, denkt man, wow, und staunt noch, wenn man längst wieder zu Hause ist.

Dann kommen die Artisten von Circa nach Düsseldorf und werfen alles über den Haufen. Grenzgänger, Schelme, Menschenrechtler haben im Festzelt am Burgplatz das Kommando übernommen – so etwas gab es noch nicht zu sehen. Die zehn Darsteller bauen Türme aus Menschen und erschaffen Körperwelten, in denen Frauen die physisch Stärkeren sind und Geflüchtete um ihr Leben schwimmen. Sie flanieren auf den Kniekehlen ihrer Partner und schlagen mit einem entsetzlichen Knall auf den Boden auf, wenn sie den Halt verlieren, weil niemand bereitsteht, um sie zu retten. Die Bühne wird um den Luftraum erweitert, und manchmal ist bloß ein Fuß gesichert, während der Artist ein riskantes Spiel mit dem Hinabfallen und Aufsteigen treibt. Das Seil ist in diesem fragilen Gefüge beiläufiges Hilfsmittel. Der Mensch wird zu einem mehrdimensionalen Erlebnis. Mit der Eleganz einer Ballerina balancieren die Künstler auf der Klaviatur des körperlich Möglichen, so dass die starken Bilder, die sie zeichnen, als Zwischentöne durch die Zuschauerreihen schwingen. Getragen von der Musik von Gustav Mahler und James Brown.

Die Musik – das mag angesichts der Dominanz physischer Glanzstücke nach Nebensache, nach zaghaftem Begleiter klingen, jedoch wird die Auswahl der Songs mit Passion und Akribie vollzogen. Yaron Lifschitz, Direktor von Circa und Regisseur von Opern- und Theaterinszenierungen, badet nahezu in Musik, bevor er die finale Playlist festlegt. Dazu passend heißt es, er habe für ein früheres Werk allein hundert Alben gekauft, um sich bestmöglich entscheiden zu können, wonach die Körperkunst seiner Artisten denn wohl am ehesten klingen könnte.

Yaron Lifschitz hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für Heimat und Exil, Vertreibung und Ankommen. Seine Kunst ist damit stets verknüpft. Es muss eine ideale Verbindung von Unterhaltung und Haltung sein, denn die Zuschauer bekunden stehend Beifall noch bevor die Vorstellung endet.

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