Kunstaktion in Düsseldorf Durch die Nacht mit Beethoven

In der Kunsthalle wurde eine 24-Stunden-Version der 9. Sinfonie gespielt. Mancher Zuhörer blieb rund um die Uhr.

 Zur „Ode an die Freude“ am Sonntagmorgen aufwachen: Zuhörer aus dem harten Kern, der die entschleunigte Beethoven-Version komplett genoss.

Zur „Ode an die Freude“ am Sonntagmorgen aufwachen: Zuhörer aus dem harten Kern, der die entschleunigte Beethoven-Version komplett genoss.

Foto: Anne Orthen (ort)

Ganz entspannt liegen Zuhörer auf Säcken, auf Yogamatten oder haben es sich auf Stühlen bequem gemacht. Durch die große Fensterfront der Kunsthalle scheint gegen 21.30 Uhr das immer schwächer werdende Tageslicht in das karge Auditorium herein. Aus sechs großen Lautsprecher-Türmen kommt ein glasklarer, nicht enden wollender, zitternder Streicherklang. Ganz langsam und fast unmerklich steigert er sich, wird lauter und höher. Dazwischen setzen Bläser Töne, die sich allmählich im Raum verteilen. Schier endlos zittern dann wieder Streichersounds durch den Raum, steigern sich ins Unendliche und flachen, so langsam wie sie gekommen sind, wieder ab. Stille.

Die Zuhörer stehen auf und gehen ins Treppenhaus der Kunsthalle. An einem Stand gibt es Tee, Kaffee und Obst zur Stärkung. Denn die Zuhörer werden noch lange hier sein, gespielt wird nämlich Beethovens Neunte, gedehnt auf 24 Stunden. An der Theke steht in einem schwarzen Overall der Schöpfer dieser Klangkaskaden, der Norweger Leif Inge, neben ihm der Düsseldorfer Künstler Ralf Brög, Organisator des Abends und für die künstlerische Gestaltung der U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Allee verantwortlich. Gleichzeitig zur Aufführung in der Kunsthalle wird auch die U-Bahnstation mit dieser Arbeit beschallt.

Seit 2002 tourt Leif Inge mit „9 Beet Stretch“ durch die Welt. An Beethovens Wirkungsstätten in Wien und Bonn wurde die Klanglandschaft aufgeführt, aber auch in Shanghai, New York und Seoul. „Das Stück ist erwachsen geworden, ich begleite es nur noch als Unterstützer“, sagt Inge. So erklärt er seine Arbeit und ihre technischen Aspekte den Zuhörern. Oder diskutiert einfach über Slavoj Žižeks Theorie von Beethovens Neunter als offener Container für alle möglichen politischen Ideologien mit den Gästen.

Zum beginnenden zweiten Satz füllt sich der Raum dann langsam wieder. Fünf Stunden wird er dauern, Rennmeister Karajan hat das „Molto Vivace“ in knapp elf Minuten durchgepaukt. Trotz dieser Länge zieht das Stück den Hörer magisch an, man verliert sich in den unendlichen Klangkaskaden. Und immer wieder können einzelne Töne und Höhen erkannt werden. Denn Inge hat das Werk nicht einfach gedehnt, also langsamer abgespielt und dadurch die Töne verzerrt, sondern mit einer Sampling-Software bearbeitet. „Dadurch bleiben die Tonhöhen dieselben, technisch gesehen habe ich also gar nicht gedehnt, sondern verlängert“, sagt Inge. Genaugenommen um das 22,15-Fache. Als er das Konzept 2002 umsetzte, benötigte er enorme Rechnerleistungen. Denn das ganze Stück wird in unendlich viele kleine, sich überlappende Schnipsel geschnitten, um danach wieder auf Kante zusammengesetzt zu werden. Der Effekt ist verblüffend, trotz der vollkommenen anderen Form der Musik, klingt es doch immer noch nach Beethovens Opus Magnum.

Der Zugang zur U-Bahnhaltestelle Heinrich-Heine-Allee von der Königsallee ist am Freitagnachmittag vor allem von Einkäufern besucht. Bepackt mit großen Tüten der umliegenden Modehäuser eilen sie durch das Verteilergeschoss hinzu auf die lange Rolltreppe zum Bahnsteig. Beim Eintritt in die unterirdische Ebene drehen viele jedoch die Köpfe, denn auch hier werden sie mit „9 Beet Stretch“ beschallt. Man sieht die Irritation und Verwunderung in den Gesichtern. Bereits seit einigen Stunden hören vier Handwerker, die eine der Rolltreppen richten, Inges Klanglandschaft. Wunderbar sei es. zu solch einer Musik zu arbeiten, sagt einer von ihnen. Als sie erfahren, dass es Beethoven ist, sagt ein anderer stolz: „Hab ich es Euch doch gesagt!“ Denn das Erstaunliche an der entschleunigten Neunten ist, dass man sie immer noch erkennt. Einige Tonhöhen sind wohl unterbewusst so in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Als sich Ralf Brög 2001 unter dem Titel „Drei Modellräume“ für die künstlerische Gestaltung eines U-Bahnhofes der Wehrhahn-Linie bewarb, war seine erfolgreiche Idee, den öffentlichen Raum zu einem Auditorium umzufunktionieren und mit Klangkunst zu füllen. Dazu gehört auch, dass mit der Zeit ein Repertoire an Arbeiten für den Klangraum aufgebaut wird. „Klang hat eine veränderliche Qualität, die man im Laufe der Zeit aktualisieren kann“, sagt Brög, der selbst als Kurator für die Auswahl der Klänge zuständig ist. Neben „Birds on a Wire“ von „Pyrolator“ Kurt Dahlke und Jörn Stoya – einem nach Jahres- und Tageszeit sich verändernden Klangwerk aus Vogelstimmen – kommen nun fünf neue Arbeiten zum Repertoire hinzu.

Zurück in der frühmorgendlichen Kunsthalle werden am Sonntag die acht verbliebene Zuhörer durch die Stille zwischen dem dritten und vierten Satz der Neunten aufgeweckt. Es ist 7.30 Uhr. Nach dem sehr langsamen dritten Satz, hier dauert eine halbe Note fast eine Minute, folgen nun achteinhalb Stunden des berühmten letzten Satzes inklusive des verlangsamten „Ode an die Freude“-Chors. Am Morgen trudeln nun wieder mehr Zuhörer ein und lassen sich über die lange Nacht vom harten Kern der Zuhörer berichten. Um 16 Uhr am Sonntag ist der letzte Takt gespielt. Einige haben 24 Stunden durchgehalten – mit Pausen. Weggehen kam nicht in Frage: „9 Beet Stretch“ habe sie immer wieder hineingezogen, berichten sie.

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