Interview Isabell van Ackeren „Studieren soll chancengerechter werden“

Duisburg · Die Prorektorin für Studium und Lehre der Universität Dusiburg-Essen möchte Ausbildung und Studium weiter verzahnen. Sie findet, dass Studieren in Deutschland demokratischer gestaltet werden sollte.

 Isabell van Ackeren

Isabell van Ackeren

Foto: Frank Preuss/Fank Preuss

Die jüngst veröffentlichten Zahlen des Centrums für Hochschulentwicklung in Gütersloh belegen, dass immer mehr Studenten ohne Abitur an die Hochschulen, auch in NRW, kommen. 686 sind es bislang etwa an der Universität Duisburg-Essen. Ein Gespräch mit der Prorektorin für Studium und Lehre der Universität Duisburg-Essen (UDE), Isabell van Ackeren, über den Wert des Studiums, unterschiedliche Bildungsbiografien und warum Studieren demokratischer werden sollte.

Gibt es Deutschland tatsächlich einen „Akademisierungswahn“, wie ihn gerade Industrie und Handwerk immer wieder bemängeln?

Van Ackeren Schon bei der Einführung des Abiturs vor 230 Jahren meinte man, dass zu viele – damals noch junge Männer – an die Universitäten kommen. Ähnliche Argumentationsmuster findet man bis heute. Dabei ist die Arbeitslosenquote unter Akademikern besonders niedrig. Unsere Absolventen kommen, das zeigen auch Daten aus unseren eigenen Befragungen, gut am Arbeitsmarkt an und ein Hochschulabschluss schlägt sich auch deutlich im Gehalt nieder. Dies macht das Studium für junge Menschen attraktiv und steht im Gegensatz zu dem, was sie in manchen Ausbildungsberufen an Prestige, Einkommen, Arbeitszeiten und Karriereperspektiven finden. Digitalisierung und Strukturwandel tragen auch dazu bei, dass der Trend zu hochqualifizierter Arbeit ungebrochen ist. Wenn es umgekehrt gelänge, die immer noch hohe Zahl an jungen Menschen zu reduzieren, die keinen Ausbildungsplatz finden und sich im Übergangssystem des beruflichen Schulsystems befinden, würden wir wohl nicht über zu wenige Auszubildende oder zu viele Studierende sprechen. Hier täte eine Perspekti erweiterung gut.

Was halten Sie von dem immer beliebter werdenden Modell „Studium ohne Abitur“?

Van Ackeren Aus Sicht der jungen Menschen, die sich für diesen Weg entscheiden, kann ich die Attraktivität des Angebots aus den genannten Gründen gut verstehen. Aus der Perspektive der Gesellschaft ist dieser Weg zu höherer Bildung auch als ein Beitrag dazu zu verstehen, den künftigen Fachkräftebedarf zu sichern. Besonders wichtig finde ich, den immer noch sozial ungleichen Zugang zur Hochschule aufzubrechen. Von 100 Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien nehmen 27 ein Hochschulstudium auf, aus Akademikerfamilien sind es 79. Der Weg der Akademikerkinder führt meistens klassisch über das Abitur am Gymnasium in die Universität, für die andere Gruppe sind es häufiger auch nicht-gymnasiale Wege. Das Modell Studium ohne Abitur trägt zu einer höheren Durchlässigkeit zwischen den beiden Welten im Bildungssystem bei. Wir müssen ohnehin mehr über Möglichkeiten nachdenken, Ausbildung und Studium zu kombinieren, etwa im Rahmen von dualen Studiengängen, aber auch durch mehr Anerkennung von erworbenen Kompetenzen beim Wechsel der Systeme, und zwar in beiden Richtungen.

Ist es nicht eine Entwertung des Abiturs und letztlich des Studiums, wenn sich auch ohne Hochschulreife  eingeschrieben werden kann?

Van Ackeren Neben das Abitur am Gymnasium als mit Abstand häufigster Pfad zur Universität sind im Verlauf der Schulgeschichte immer wieder alternative Modelle getreten, etwa über die Möglichkeit des Abiturs an Gesamtschulen und Berufsschulen oder auf dem zweiten Bildungsweg. Aber auch bei der Hochschulzulassung gibt es mittlerweile viel Bewegung, nämlich neben der Abiturnote auch außerschulische Kriterien zu berücksichtigen, wie etwa die Berufspraxis. Dennoch: Im internationalen Vergleich hat das Abitur beim Hochschulzugang hierzulande immer noch einen besonderen Stellenwert. Ich würde eher von einer weiteren Entmonopolisierung des Abiturs beim Übergang in den Hochschulsektor sprechen. Denn es ist ja nicht so, als könnte man „einfach so“ ohne Abitur ein Studium aufnehmen. Man muss sich schon – je nach Bewerbergruppe – beruflich besonders qualifiziert haben bzw. eine Zugangsprüfung oder ein Probestudium erfolgreich abschließen. Empirische Studien, dass Studierende ohne Abitur ein mäßig erhöhtes Risiko haben, ihr Studium abzubrechen. Insofern gehen diese Studierenden ein hohes Risiko ein, wenn sie etwa ihr unbefristetes Beschäftigungsverhältnis kündigen, um ein Studium aufzunehmen. Dies sagt auch einiges über die Motivation und den Lernwillen dieser Gruppe aus. Studienverlaufsdaten weisen zudem darauf hin, dass die Gruppe hinreichend studierfähig ist.

Worin sehen Sie hierbei die Vorteile oder auch Nachteile -- auch für die Universitäten und speziell Ihrer?

Van Ackeren Es handelt sich hier um eine immer noch verhältnismäßig kleine und zugleich ausgewählte Gruppe an Studierenden. Häufig haben wir es mit lebens- und berufserfahreneren Studierenden zu tun, die neben dem Studium durch berufliche Tätigkeit und Familienaufgaben belastet sind. Wer da erfolgreich im System Universität sein möchte, der muss hochmotiviert, lern- und leistungsbereit sein. Davor habe ich großen Respekt. Außerdem profitieren wir als Organisation von ihrer vielfältigen Erfahrung. Sie wissen schon genauer, wo sie im Leben hinmöchten und tragen zum Transfer zwischen Berufswelt und Hochschule bei. An der UDE sind wir sehr offen für vielfältige Bildungsbiografien und freuen uns darüber, Bildungswege in unterschiedlichen Lebensphasen möglichst chancengerecht mitgestalten zu können.

In welchen Studiengängen und Fachbereichen gibt es die meisten Studenten ohne Abitur?

Van Ackeren Bei den Studierenden mit beruflicher Bildung sind die Bildungswissenschaften (50) besonders beliebt (etwa im Bereich Soziale Arbeit, Psychologie), gefolgt von den Wirtschaftswissenschaften (39, insbesondere auch Lehramt am Berufskolleg sowie BWL), Ingenieur- und Geisteswissenschaften (36, inklusive Lehramt Grundschule). Studierende mit Fachhochschulreife wählen insbesondere Ingenieurwissenschaften (159) an, gefolgt von Wirtschaftswissenschaften (87), Mathematik (57) und Bildungswissenschaften (43).

Gibt es für sie spezielle Programme, um den Einstieg ins Studium zu vereinfachen?

Van Ackeren Das Fehlen des (Fach-)Abiturs ist nicht selten ein Teil der Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Erfolg bzw. Misserfolg im Studium werden häufig darauf zugeschrieben, wie die Forschungslage zeigt. Hinzu können Fremdheitsgefühle und Passungsprobleme aufgrund der oftmals nicht-akademischen Herkunft, aber auch z.B. aufgrund eines gewissen Altersunterschiedes zur Gruppe der Abiturient*innen kommen, aber es gilt auch Wissenslücken zu schließen und Lernstrategien zu entwickeln sowie Studium und andere Lebensbereiche miteinander zu koordinieren. Insofern haben wir uns für eine Studienberatung entschieden, die sich ausdrücklich auf beruflich qualifizierte Menschen einstellt und in unser hochschulweites Mentoringsystem übergeht. In unserem Akademischen Beratungs-Zentrum Studium und Beruf an der UDE berät ein Mitarbeiter speziell diese Zielgruppe im Vorfeld des Studiums. Neben spezifischen Angeboten können sie zudem von unseren vielfältigen Angeboten in der Studieneingangsphase profitieren, etwa zur Stärkung der mathematischen und sprachlichen Kompetenzen. Schließlich müssen wir unsere Studienformate weiter zeitlich und örtlich flexibilisieren, um auf die Bedarfe unserer Studierenden insgesamt angemessener eingehen zu können. In der aktuellen Zeit lernen wir massiv dazu, wie das auf breiterer Basis funktionieren kann.

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