Heiter betreutes Musikhören

Beim "düsseldorf festival!" gab es in der Neanderkirche einen Vortragsabend mit Wolfram Goertz, dem Musikredakteur der RP. Diesmal beschäftigte er sich unter dem Motto "Die Wiederentdeckung der Gänsehaut" mit den Grundlagen des Hörens. Zur Verdeutlichung legte er Platten auf.

Schon der große russische Romancier Leo Tolstoi hat die Musik als "Stenografie des Gefühls" bezeichnet. Denn ungleich stärker als die anderen hohen Künste appelliert die Musik ganz unmittelbar an das Gefühl, ja an ganz archaische Instinkte. Das weiß jeder, der beim Musikhören schon einmal das berühmte Gänsehaut-Gefühl erlebt hat.

Genau um jenes wohlige Erschauern ging es dieses Mal bei der inzwischen Kultstatus genießenden alljährlichen Veranstaltung mit Wolfram Goertz, dem Musikredakteur der Rheinischen Post, in der Neanderkirche, zu der wiederum 600 Menschen in das Gotteshaus strömten. "Betreutes Musikhören" nennt Goertz, der seine Promotion in Medizin geschrieben hat, das Ritual, bei dem sich lockerer Vortrag von der Kanzel herab und ehrfürchtiges Lauschen erfrischend abwechseln. Goertz betrachtete das Gänsehautgefühl zunächst aus Sicht des Mediziners, denn die Urgewalt der Musik wird inzwischen von Hirnforschern, Neurologen und Musikwissenschaftlern systematisch erforscht. Sie wiesen nach, dass Musik direkt auf das limbische System wirkt, jenes Hirnareal, in dem Emotionen und Triebverhalten entstehen und verarbeitet werden, und das außerdem für das Ausschütten von Endorphinen zuständig ist.

Was man immer schon ahnen konnte, in der Neanderkirche wurde es Gewissheit: Musik macht glücklich, unter anderem stimuliert sie das körpereigene Selbstbelohnungssystem. Zur Beweisführung illustrierte Goertz seine Ausführungen mit Musikbeispielen, von denen nur die wenigsten erwartet werden durften: Da gab es eine chromatische Passage aus dem langsamen Satz von Mozarts 41. Sinfonie, Bachs vierten Contrapunctus aus der "Kunst der Fuge" in einer klanglich lausigen, dafür aber unwirklich perfekt leichten Aufnahme mit Glenn Gould und immer wieder Ausflüge in den Jazz, etwa mit Solveig Slettahjells erdigem Song "This is my people" und Keith Jarretts von herrlichem Brummen begleiteten "My song". Zwischendurch gab es Ratespiele: Da wurde dreimal der Anfang der Beethovenschen "Pastorale" gespielt, und das Publikum sollte raten, wer am Pult gestanden hatte. Keiner dürfte alle drei Orchesterbändiger geraten haben, die sich tatsächlich in ihrer Sicht auf die "Ankunft auf dem Lande" fundamental unterschieden: Wolfgang Sawallisch apollinisch ausgewogen und hell, Nikolaus Harnoncourt erstaunlich schwerblütig und Hermann Scherchen aufregend schnell, bäuerlich und bukolisch. Erstaunlich war auch die Begegnung mit Bohuslaw Martinus fünfter Symphonie, die man auch hätte in den amerikanischen Klangraum hätte einsortieren wollen, verblüffend schließlich Chick Coreas jazzige Kadenz-Version von Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488.

Die Stimmung in der Neanderkirche war konzentriert und heiter, belohnt wurde der von Bachs "Ach Herr, lass Dein lieb Engelein" gerührte Applaus mit einer ausgelassenen Rausschmeißer-Version des gestotterten Duetts von Papageno und Papagena aus der unsterblichen "Zauberflöte".

(RP)
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