"Er schoss auf die Fliehenden im Wasser"

Überlebende des Massakers auf der Insel Utoya schildern ihr fast 90 Minuten andauerndes Martyrium. Obwohl sich viele Jugendliche versteckten, tötete Anders Behring Breivik mindestens 86 Menschen. Der Täter ging dabei systematisch vor. Die Polizei erreichte die Insel wegen einer Panne erst verspätet. Urlauber retteten etliche Menschen aus dem Wasser.

Utoya Als die Bombe Oslo ins Chaos stürzt, macht sich Anders Behring Breivik auf den Weg zur Insel Utoya. Nach allem, was bisher bekannt ist, hat der 32-Jährige dieses Vorgehen genau geplant. Während die Menschen in der norwegischen Hauptstadt an diesem Freitagnachmittag unter Schock stehen, viele blutend durch die zerstörte Innenstadt taumeln, nutzt Breivik die kollektive Verwirrung, um sein entsetzliches Werk zu vollenden. Von Oslo bis zum Kai sind es etwa 40 Kilometer. Für die Fahrt braucht Breivik rund eine Dreiviertelstunde. In Polizeiuniform bekommt er von einem Wachmann freien Zugang zu der Insel, auf der gerade 600 Jugendliche der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF ein Ferienlager veranstalten. Nach dem Anschlag in Oslo müsse er die Sicherheit auf der Insel überprüfen, argumentiert Breivik – tatsächlich will er ein Blutbad anrichten.

Eine Fähre bringt den vermeintlichen Polizisten, der zwei Waffen bei sich trägt, auf die 600 Meter vom Festland entfernte Insel. Um 17 Uhr kommt Breivik auf Utoya an. Eins seiner ersten Opfer ist ein Polizist außer Dienst, der als privater Sicherheitsmann auf der Insel arbeitet. Breivik marschiert direkt ins Haupthaus, wo sich die Jugendlichen versammelt haben, um Näheres über die Lage in Oslo zu erfahren. "Wir trösteten uns damit, dass wir auf unserer Insel wenigstens in Sicherheit seien", schreibt eine Teilnehmerin des Camps am nächsten Tag in ihrem Blog. Als Breivik das Haus betritt, eröffnet er sofort das Feuer. Wer nicht getroffen wird, flüchtet. "Ich töte euch alle", habe Breivik gerufen, berichtet ein Augenzeuge. Und eine 22-Jährige erzählt, der Täter habe geschrien und gejubelt, während er die Jugendlichen erschoss.

Für die jungen Leute beginnt nun ein fast 90-minütiges Martyrium. Obwohl einige bereits um 17.10 Uhr den Notruf wählen, bekommen sie keine Hilfe – es wird ihnen gesagt, sie sollten wegen des Anschlags in Oslo die Leitung nicht blockieren. Währenddessen tötet Breivik kaltblütig weiter. Ein Zeuge schildert ihn als völlig ruhig und kontrolliert, dabei aber absolut entschlossen. So habe Breivik meist mehrfach auf seine Opfer geschossen, teilweise, wenn sie verletzt auf dem Boden lagen, gezielt in den Kopf. "Er war da, um zu töten", sagt ein 20-Jähriger.

Die Jugendlichen rennen über die Insel, verstecken sich, wo sie können. Ein Mädchen sucht Schutz in einer Toilette, etwa 20 Camp-Teilnehmer verbarrikadieren sich mit Matratzen in einem Zimmer, kriechen unter die Betten. Die 15-jährige Elise schlüpft hinter einen Felsen. "Ich habe den Täter atmen hören", sagt sie später. Aus ihrer Zuflucht heraus ruft sie ihre Eltern an, flüstert ihnen zu, was gerade geschieht. Die Eltern versuchen, das Mädchen zu beruhigen, und mahnen sie, ihre helle, allzu auffällige Jacke auszuziehen. Viele Jugendliche nutzen Facebook und Twitter, um Hilfe zu rufen, oder sprechen noch einmal mit ihren Eltern. Eine SMS aus Utoya lautet: "Ruf mich nicht an. Ich verstecke mich. Verdammt, jetzt muss ich heulen."

17.27 Uhr gibt die norwegische Polizei offiziell als Zeitpunkt des ersten Notrufs an. Fast eine halbe Stunde schießt Breivik bereits mit einem automatischen Gewehr auf jeden, der sich bewegt. Einige lassen sich von seiner Polizeiuniform täuschen, rennen hilfesuchend auf ihn zu – und werden gnadenlos erschossen. Andere stellen sich tot und überleben. Adrian Pracon erleidet einen Schulterschuss, flüchtet ans Ufer und stößt dort wieder auf Breivik, fleht ihn an, ihn leben zu lassen – und wird verschont. Warum, weiß er nicht. Vorher hatte er noch verzweifelt getwittert: "Auf Utoya geschossen. Viele starben."

Um 17.38 Uhr macht sich die Anti-Terror-Einheit "Delta" der Polizei von Oslo über den Landweg auf zu der kleinen Insel. Die Polizeichefin von Hönefoss entschuldigt die Verzögerung damit, dass sich die Einsatzkräfte erst ausrüsten mussten. Ein Hubschrauber steht zu weit von der Hauptstadt entfernt, die Straße erscheint als die schnellere Alternative. Auf Utoya spielen sich derweil schreckliche Szenen ab. Weil keine Hilfe auftaucht, flüchten sich viele Jugendliche verzweifelt in das rund 15 Grad kalte Wasser, um schwimmend der Reichweite des Schützen zu entkommen. "Er schoss aber auf die Fliehenden im Wasser", sagt ein Zeuge. Dabei haben die Schwimmenden ohnehin schon mit ihrer Panik und den vollgesogenen Kleidern zu kämpfen. Etliche ertrinken. Der Besitzer eines Campingplatzes auf dem Festland hört die Schüsse, kurz darauf erreichen erste Überlebende erschöpft das Ufer. Sie berichten, dass viele andere im Wasser unterwegs sind, manche von ihnen verletzt und kurz davor, unterzugehen. Sofort fahren Urlauber mit Booten los, um die Jugendlichen zu retten.

Mittlerweile müssen diejenigen, die sich auf der Insel weiter verstecken, teilweise mit ansehen, wie ihre Freunde von Breivik getötet werden. Der Täter geht systematisch vor, hat sich mit Unmengen Munition eingedeckt. Niclas Tokerud schreibt während der Schießerei auf der Insel eine SMS an seine Schwester: "Es hat Schüsse gegeben. Ich habe Angst! Aber ich verstecke mich, und es geht mir gut. Ich liebe dich." Später schreibt er seiner Schwester, dass er in Sicherheit ist – mindestens 86 Jugendliche aber sterben auf Utoya.

Die Polizei erreicht den Anleger gegen 17.52 Uhr, muss aber noch auf ein Boot warten. Ein im benachbarten Hönefoss angefordertes Polizeischiff erweist sich für den Transport der Beamten als ungeeignet, erklärt die Polizei gestern. "Mit so vielen Menschen und Ausrüstung an Bord lief das Boot voll Wasser, und der Motor setzte aus", erklärte Einsatzleiter Erik Berga das späte Einschreiten. Durch die Panne verstreichen weitere wertvolle Minuten, in denen der 32-Jährige sein Massaker fortsetzt. Erst mit von Urlaubern bereitgestellten Booten gelangt die Spezialeinheit auf die Insel. Es ist 18.25 Uhr. Wenig später ergibt sich Anders Behring Breivik den Beamten – nach rund 90 Minuten des Mordens.

Derweil geht der Kampf einiger Jugendlicher ums Überleben weiter. Einige sind immer noch im Wasser, versuchen verzweifelt, das rettende Ufer zu erreichen. Andere trauen sich nicht aus ihren Verstecken auf der Insel, aus Angst, in eine Falle zu laufen. Emilie Bersaas erzählt, dass sie zwei Stunden lang unter einem Bett lag, bis die Polizei das Fenster zu ihrem Zimmer einschlug. Angesichts der vielen Toten fällt es ihr schwer, sich über ihre Rettung zu freuen – und überhaupt zu begreifen, was auf Utoya passiert ist: "Es ist immer noch alles so unwirklich, besonders hier in Norwegen. Das ist etwas, das hier einfach nicht passieren kann."

(RP)
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