Viersen "Das ist ein einziger Albtraum"
Viersen · Am Tag nach der Sprengung einer Weltkriegsbombe in Viersen ist gestern das ganze Ausmaß der Verwüstung sichtbar geworden. Besonders betroffen ist die Besitzerin eines Geschäfts für Kinderbekleidung. Ihr Laden wurde durch die Detonation fast völlig zerstört. Bürgermeister Günter Thönnessen (SPD) sicherte den Geschädigten Hilfe zu.
Die Rückwand des Kindermodengeschäfts "Kinderstube" in Viersen ist weg. Von der Gartenstraße aus haben Schaulustige den Blick frei auf Kinderkleidung, die von einer schwankenden Kleiderstange aus in den Bombentrichter zu fallen droht. Babysöckchen hängen, nach Farben sortiert, auf einem Ständer gleich am Abgrund. "Es ist wirklich ein einziger Albtraum. Ich warte die ganze Zeit schon darauf, dass ich aufwache", sagte die Inhaberin des Geschäfts, Heike Vonwirth.
Am Tag nach der Sprengung wird das Ausmaß des Schadens deutlich. Der Sand, mit dem die Bombe in der Viersener Innenstadt bedeckt war, ist durch die Detonation in alle Richtungen katapultiert worden. Bis hoch zu den Dächern der mehrstöckigen Wohn- und Geschäftshäuser ist der Sand gespritzt. Fensterscheiben sind zu Bruch gegangen, Dachziegel stürzten herunter, Glassplitter liegen herum. An der Rückseite der "Kinderstube" war die Bombe bei Bauarbeiten am Montagmittag in etwa drei Meter Tiefe entdeckt worden. Im Bombentrichter liegen nun Leitern, zerborstene Holzstücke, Betonteile. Eine Anwohnerin saugt das Fensterbrett ab, ein anderer kehrt.
Als die Bauarbeiter den folgenschweren Fund gemacht hatten, "haben wir alle direkt an der Grube gestanden und noch Fotos gemacht", berichtet Heike Vonwirth. Bei dem Gedanken verzieht sie das Gesicht und blickt sich im Geschäft um: Nachdem die Bombe gefunden wurde, habe sie lange Zeit gedacht, dass alles glimpflich ausgehen werde. Nun steht sie inmitten der Scherben. "Wir müssen noch heute eine Wand einziehen und die Scheiben ersetzen", sagt sie. Die Ware sei nicht zu retten: "Die Sachen kann ich nicht mehr verkaufen. Überall sind Glassplitter drin." Sie weiß nicht, wie es weitergeht.
Andere Anwohner haben mehr Glück. Etwa die Geschäftsführerin des Juweliers, der gegenüber der "Kinderstube" liegt. Sie hat nur leichte Schäden am Dach ihres Hauses entdeckt. Bis auf die beiden Gebäude mit den Ladenlokalen sind auch alle Wohnungen weiterhin bewohnbar, niemand ist obdachlos geworden.
Bürgermeister Günter Thönnessen (SPD) besichtigte den Ort der Verwüstung bereits wenige Minuten nachdem der Kampfmittelräumdienst Entwarnung gegeben hatte. Während die Einsatzkräfte weit nach Mitternacht noch damit beschäftigt waren, den Krater freizulegen, machte sich Thönnessen bereits Gedanken um die Entschädigung für die betroffenen Mieter und Hauseigentümer. "Wir werden für sie eine Lösung finden", sagte er mit Blick auf die zerstörten Gebäude, die zum Teil abgerissen werden müssen. Er kenne auch ein gutes örtliches Abrissunternehmen, das die Arbeiten günstig und schnell erledigen könne. Daran, sagte er, müsse man auch denken.
Als Mitglied des Krisenstabes, der unmittelbar nach dem Bombenfund eingerichtet wurde, hätte Thönnessen eigentlich bestens über die Spreng- und Evakuierungspläne informiert gewesen sein müssen. Doch das war nicht so – mindestens bis in die frühen Abendstunden herrschte bei den Sicherheitsbehörden Konfusion. Noch um kurz vor 20 Uhr, also sechs Stunden nach dem Fund der Bombe, konnten weder der Leiter der Feuerwehr noch der Bürgermeister und andere Stadtoffizielle mit Gewissheit sagen, ob überhaupt noch an diesem Abend gesprengt werde. Auch über die Größe des Blindgängers bestand zwischen den Verantwortlichen zu diesem späten Zeitpunkt noch Uneinigkeit. Während der Stadtsprecher von fünf Zentnern sprach, meinte der Feuerwehrchef, die Bombe sei 2,5 Zentner schwer. Das Durcheinander bei den verantwortlichen Stellen führte auf den Straßen zu einem Chaos. Evakuierte Anwohner irrten zum Teil orientierungslos umher. Weil es keine Lautsprecherdurchsagen gab, wussten viele nicht, wohin sie sollten. Auch die Polizisten an den Straßensperren konnten nicht helfen. Sie waren ortsfremd, gehörten einer Hundertschaft der Kölner Polizei an, die zur Verstärkung gerufen worden war. Erst gegen 21 Uhr beruhigte sich die Lage.
Die Stadt Viersen, zuständig für die Evakuierung der Bevölkerung, erklärt das zeitweilige Chaos mit der "Ausnahmesituation, die man nicht alle Tage erlebt". Ein Stadtsprecher sagt: "Wir haben für solche Fälle zwar einen Notfallplan, aber den haben wir zuvor nie geübt." Bürgermeister Günter Thönnessen meinte, dass die Evakuierung insgesamt gut gelaufen sei. Solche Notfallszenarien können laut Innenministerium in der Praxis auch nur schwer geprobt werden. "Es ist fast unmöglich, eine solche Großlage zu simulieren", sagt eine Ministeriumssprecherin.
Die Menschen in Viersen haben derweil ganz andere Sorgen. Für sie ist der Tag nach der Sprengung der erste Tag des Aufräumens.
Internet Zahlreiche Fotos vom Unglücksort unter www.rp-online.de/viersen