Bottroper Whistleblower Martin Porwoll Der Preis der Wahrheit

Bottrop · Martin Porwoll hat als Whistleblower die Ermittlungen gegen einen Bottroper Apotheker ermöglicht, der massenhaft Krebsmedikamente gepanscht haben soll. Wie lebt es sich damit?

 Martin Porwoll war kaufmännischer Leiter der Apotheke von Peter S., der wegen Medikamentenpanscherei vor Gericht steht.

Martin Porwoll war kaufmännischer Leiter der Apotheke von Peter S., der wegen Medikamentenpanscherei vor Gericht steht.

Foto: Tobias Jochheim

Ein ruhiges Gewissen sei ein sanftes Ruhekissen, heißt es, aber Martin Porwoll schläft verdammt schlecht. Denn für seine Seelenruhe hat er nicht nur den Verlust seines Arbeitsplatzes in Kauf genommen und hohe Anwaltskosten zum Selbstschutz. Zu allem Überfluss leidet der gelernte Kaufmann, ein rationaler Typ, auch unter Panikattacken. Was fühlt er in diesen Momenten? "Todesangst", sagt der 47-jährige Bottroper nüchtern. Er will nicht klagen, bloß informieren. "Der menschliche Körper ist erstaunlich gut darin, einem zu vermitteln, dass die berechtigt ist, selbst wenn man auf dem Sofa sitzt."

Porwoll hat das Treiben von Peter S. aufgedeckt, dem mutmaßlichen Pansch-Apotheker von Bottrop. Das war nicht nur ein finanzielles Wagnis, damit hat er auch einen Mann verraten, mit dem er schon den Kindergarten besucht hat und der sich ihm gegenüber stets großzügig gezeigt hatte. 2011 stellte der in Bottrop als Wohltäter geschätzte Apotheker Porwoll in einer privaten Lebenskrise eine Wohnung zur Verfügung, 2012 verschaffte er ihm einen Job in der Buchhaltung seiner Apotheke. Im August 2014 schließlich wurde Porwoll dort festangestellt, als kaufmännischer Leiter. "Damals erschien mir das wie ein Jackpot", sagt er heute. "Ein herausfordernder Job in einem Traditionsunternehmen von 1864 mit exzellentem Ruf, nur zwei Minuten von meiner Wohnung entfernt — und bestens bezahlt noch dazu." Sechs Wochen später heiratete Porwoll erneut. "Der Start in mein zweites Leben war perfekt."

Zufällig fällt in diese ersten Arbeitswochen auch eine erste Anzeige gegen S., die aber im Sande verläuft. "Alles Quatsch!", habe ihm sein Chef damals gesagt, erinnert sich Porwoll; böswillige Unterstellungen, Neid. Doch die Gerüchte reißen nicht ab. Das erste lautet so: Peter S. missachte alle Regeln, arbeite im Reinraumlabor zur Anmischung der Chemotherapien entgegen des Vier-Augen-Prinzips stets allein. In Straßenkleidung statt sterilem Anzug mit Mundschutz, teils sogar mit seinem Hund, dem Labrador "Grace". Das zweite Gerücht ist noch ungeheuerlicher: Bei der händischen Anmischung der Chemotherapien, wird gemunkelt, füge S. den Infusionen aus Salz- oder Zuckerwasser weniger Wirkstoff hinzu als vorgesehen. Sehr viel weniger. Und zwar systematisch. Vielleicht aus einer Art Gottkomplex heraus, vielleicht aus schnöder Gier nach immer mehr Millionen. Um seine Prachtvilla zu bezahlen, mit Wasserrutsche aus dem ersten Stock in den Pool und einer riesigen Modelleisenbahn im Keller, und diverse andere Immobilien. Ein paar Zehntausend Euro spendet er auch für die Einrichtung eines Hospizes; Peanuts für S. — und der Gipfel des Zynismus.

In Zynismus flüchten sich ein knappes halbes Jahr lang auch Porwoll und seine Kollegin; schwarzer Humor gegen das Undenkbare. Doch als er an einem Abend im Januar 2016 allein ist, nutzt Porwoll seine einmalige Position, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen: Den Zugriff auf sämtliche Ein- und Verkäufe versteht er nun als Verantwortung. Zunächst rechnet er den damals neuen Wirkstoff Opdivo durch. 52.000 Milligramm davon hat S. zu diesem Zeitpunkt bei Krankenkassen abgerechnet, weil seinen tausenden Patienten in ganz NRW und fünf anderen Bundesländern so viel verschrieben worden war. Eingekauft aber hat S. laut Porwolls Recherchen weniger als ein Drittel dieses Wirkstoffs, nämlich nur 16.000 Milligramm. Der Kaufmann kann und will seiner eigenen Rechnung zunächst nicht glauben, aber Ruhe gibt er auch nicht. "Gerechtigkeit ist mir wichtig", sagt er. "Gerade weil ich ein gebranntes Kind bin."

Porwoll selbst war 2004 als Betrüger verurteilt worden, weil diverse Kunden seiner Firma für Billig-Computer nie ihre Ware bekamen. Porwoll erzählt von sich aus davon, in allen Details. Glaubhaft schildert er, dass der eigentliche Betrüger sein Geschäftspartner und damalige bester Freund gewesen sei, der ihn um hunderttausende Euro geprellt habe und dann verschwunden sei. In der Rückschau ist Porwoll klar, dass er die Firma sofort hätte schließen müssen, aber damals versuchte er, sie zu retten. Heute sagt er: "Damit habe ich billigend in Kauf genommen, dass dadurch Dritte zu Schaden kommen. Auch wenn das nicht meine Absicht war." 18 Monate auf Bewährung bekam er, an der Privatinsolvenz schrammte er nur knapp vorbei, "und die Schulden werde ich bis zur Rente abstottern". Das sei zwar ein Stigma und unangenehm, aber eben auch "richtig so", sagt er bestimmt. "Ich habe einen Fehler gemacht und dafür Verantwortung übernommen." Sein windiger Geschäftspartner indes habe dieselbe Nummer erneut abgezogen, mit anderen Dummen. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern dreimal. Weil sich zu lange niemand darum kümmerte, ihn zu stoppen.

Doch Porwoll ist nicht ohnmächtig, nicht im Jahr 2016 gegenüber Peter S.. "Vor einem Gerücht hätte ich davonlaufen können", sagt Porwoll — aber nicht vor den Beweisen für ein massives, ja kriminelles Fehlverhalten, als die er seine Rechnungen betrachtet. Meistens. An schlechten Tagen traut er seinen eigenen simplen Kalkulationen nicht, obwohl sich bei einem zweiten Wirkstoff dasselbe Bild zeigt. Ebenso bei einem dritten, vierten und fünften. "Das war, als stehe man auf dem Zehn-Meter-Brett”, sagt er. "Springst du oder springst du nicht?” Im Juli sprint er. Nach langen Debatten mit seinem Anwalt reicht Porwoll Strafanzeige gegen S. wegen gewerbsmäßigen Betrugs ein. Doch der Alptraum endet nicht, denn erst am 29. November 2016 schlägt die Polizei zu. Ein Dreivierteljahr schwankt Porwoll da schon zwischen Hoffnung einerseits und Selbstzweifeln, Panik, Paranoia andererseits.

Dann endlich die Razzia in der Apotheke, S. kommt in Untersuchungshaft. Als eine seiner ersten Amtshandlungen unterzeichnet er den Brief, in dem Porwoll fristlos gekündigt wird. Erst ein weiteres Jahr später, Mitte November 2017, beginnt der Prozess gegen S. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm 60.000 Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz vor, Kassenbetrug um 56 Millionen Euro, Körperverletzung in 27 Fällen. Die "minimalste mögliche Anklage" nennen das die mutmaßlichen Opfer von Peter S. Auch Porwoll nimmt kein Blatt vor den Mund: "Von der Staatsanwaltschaft hatte ich mir schon mehr erhofft, zumal, nachdem sich die Polizei so in die Ermittlungen reingehängt hat", sagt er vor Schülern der Duisburger Globus-Gesamtschule, die sich in Politik gerade mit Whistleblowern befassen und ihn eingeladen haben. "Aber am liebsten ist denen natürlich, sie finden einen Axtmörder direkt neben seiner Axt. Simple Sache. Dieser Fall ist das Gegenteil davon."

Mit insgesamt 50 Wirkstoffen hat S. der Staatsanwaltschaft zufolge gepanscht; teils ließ er sich fünf, zehn, achtzehn Mal mehr Wirkstoff von den Krankenkassen bezahlen, als er je besessen hatte. Das haben die Ermittler herausgefunden, nachdem sie Porwoll auf die richtige Fährte gebracht hatte, mit einem kompletten dicken Aktenordner voller Indizien. Er selbst war lange anonym geblieben, doch ab August geht Porwoll an die Medien, lässt zu, dass Reporter seinen Namen schreiben, ihn fotografieren und filmen.

Porwoll tut das nicht, weil er sich in der Rolle des Helden gefällt. Wenn das "H-Wort" fällt, wird der sonst gefasste Mann sogar wirklich laut. Er sieht sich nicht als Mann mit einer Mission. Bloß als einen von vielen, der öffentlichen Druck ausüben will, damit der mutmaßliche Skandal nicht in Vergessenheit gerät. Heute sagt er desillusioniert: "Selbst mit maximalem Druck passiert relativ wenig." Selbst die berühmt-berüchtigten Medienanwälte, die S. auf ihn losgelassen hat, verlangen bezeichnenderweise nicht, dass Porwoll seine Kernvorwürfe zurückzieht. Aber der Prozess versinkt im Klein-Klein, im Ausland wird davon, was die Opfer "Massenmord" nennen, überhaupt keine Notiz genommen.

Porwoll selbst aber ist längst untrennbar mit dem Fall verbunden, den er aufgedeckt hat, vielleicht schon in ungesundem Maße. Mit vielen der mutmaßlich Geschädigten hat er sich angefreundet. "Wenigstens die Wochenenden will ich davon frei halten", sagt er, aber das gelinge nur selten. Wie könnte er Telefonate mit teils Sterbenden ablehnen, oder Interviews mit Journalisten, die hoffentlich dafür sorgen, dass sich etwas ändert? Selbst Gespräche mit seiner Frau und den älteren drei seiner vier Kinder drehen sich früher oder später um irgendeinen der tausend Aspekte, die mit dem mutmaßlichen Skandal zusammenhängen, von A wie Arzneimittelsicherheit bis Z wie Zytostatika, die Krebsmedikamente.

Er wird auch das Gefühl nicht los, "dass viele Leute mich beglückwünschen, dann aber sofort ihre Hände waschen wollen", damit keine Spur vom Nestbeschmutzer" Martin Porwoll an ihnen zurückbleibt. Dieses Gefühl könnte ihn auch trügen, das gibt er selbst zu — aber dass er partout keinen Job gefunden hat, ein Dreivierteljahr lang, ist Fakt.

Quasi aus Notwehr hat er sich im September selbstständig gemacht. Die Elftklässler in Duisburg-Hochfeld, die nach Schulschluss freiwillig geblieben sind, um ihm zuzuhören, schütteln fassungslos den Kopf, als er davon erzählt: Da beweist einer Zivilcourage — und wird dafür bestraft? Porwoll tut sein Bestes, um sie aufzumuntern. "Ich weiß ja, dass Sie nicht beißen", hatte Leon zur Begrüßung gesagt, als er sich beherzt neben Porwoll ans Kopfende der Kaffeetafel setzte, die sie im Klassenraum aus Schulbänken gebildet haben. "Stimmt, ich beiße nicht", antwortete Porwoll grinsend, "aber ich werde natürlich alle Ihre Geheimnisse rausfinden und verraten. Und dann zeige ich Sie auch noch an."

Tatsächlich hätte Porwoll am liebsten Ruhe. Aber seine Befragung im Prozess gegen S. steht an, dazu der Einspruch gegen die fristlose Kündigung, die er zwei Tage nach der Razzia erhielt und die ein Arbeitsgericht in erster Instanz für rechtens erklärt hat. "Das hat ja Folgen", sagt Porwoll, "angefangen dabei, dass man in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit kein Geld vom Amt bekommt." Und auch das Honorar für seinen Anwalt übernimmt niemand als Dankeschön, kein staatlicher Fonds, keine Opferschutzverband.

Dass sein Engagement diese Folgen haben würde, war Porwoll klar, doch er sieht es als alternativlos: "Hätte ich mit meinem damaligen Chef geredet, hätte er doch alle Beweise für seine mutmaßlichen Straftaten vernichtet und mich gefeuert." Entweder das, werfen die Schüler ein — oder er hätte Sie besser bezahlt. Ob er da nicht in Versuchung gekommen sei? "Sehr gut verdient hatte ich ohnehin", winkt Porwoll ab. "Weit über 100.000 Euro im Jahr. Wenn ich es geschafft hätte, mich einfach doof zu stellen, nichts wissen zu wollen, wäre ich vielleicht reich geworden. Aber eben nicht glücklich."

Ob er das denn nun sei, fragen die Schüler. Porwoll zögert. "Manchmal fühle ich mich eher wie jemand, der einen Lebensmüden gerettet hat — und dann zum Dank von ihm verprügelt wird." Gebracht habe ihm sein Einsatz jedenfalls nichts außer einem warmen Händedruck. Die Frage, ob es sich gelohnt habe, sei aber so einfach nicht zu beantworten — schon gar nicht mit Nein. Und das Urteil gegen S. habe damit auch nur wenig zu tun. "Wichtig ist, dass das System geändert wird, damit andere weder Anreiz noch Möglichkeit haben, dasselbe zu tun, was ihm vorgeworfen wird."

Porwoll ist nicht auf einem Rachefeldzug gegen Peter S.; "Mir persönlich hat er ja auch nie geschadet.” Aber falls sich S. schuldig gemacht hat, dann soll der Apotheker dafür gerade stehen, so wie einst Porwoll selbst. Doch vor allem geht es ihm um besseren Schutz für Whistleblower und effektive Kontrollen in den Zyto-Apotheken. Bislang, erklärt er den Schülern, seien die vergleichbar mit dem Auftritt eines Lebensmittelkontrolleurs, der in einer Pommesbude nur nachschaut, ob Böden und Wände sauber sind und die Küche gut beleuchtet ist. "Das kann es doch nicht sein!", ruft Porwoll. "Es geht doch um das Produkt! Man muss doch den Deckel der Friteuse öffnen und prüfen, ob das Fett darin nicht uralt ist." Erst recht, wenn das Produkt kein Fast Food ist, sondern eine Infusion, die einem Krebskranken das Leben retten soll — und dem Apotheker, der sie anmischt, hunderte Euro einbringen kann, wenn er sie unterdosiert, bei minimalem Risiko, erwischt zu werden.

"Kriminelle Energie ist nur die eine Sache", sagt Porwoll. "Die andere ist, dass unser Gesundheitssystem extrem anfällig dafür ist. Im Moment kann sich kein Krebspatient sicher sein, dass er so behandelt wird, wie er sollte." Dann lacht Martin Porwoll ein kurzes, verzweifeltes Lachen. "Aber ich lebe von der Hoffnung, dass sich das ändert. Und in diesem Fall ist doch eigentlich genug Musik drin, dass sich etwas bewegen könnte, sollte, müsste."

Könnte. Sollte. Müsste. Eigentlich.

Info Das Recherche-Netzwerk Correctiv hat für Martin Porwoll ein Spendenkonto eingerichtet: Correctiv-Recherchen gGmbH, GLS Gemeinschaftsbank, Iban: DE87 4306 0967 4090 0900 00, BIC: GENODEM1GLS, Stichwort: Whistleblower.

(tojo)
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