Andernach – die essbare Stadt

Die Stadt Andernach hat einen Teil ihrer öffentlichen Grünflächen für die Landwirtschaft umgewidmet. Mitten in der Stadt wachsen jetzt Tomaten, Bohnen, Kartoffeln und Zwiebeln. Geerntet wird von den Bürgern – kostenfrei. Das Projekt ist so erfolgreich, dass es bundesweit Aufsehen erregt.

Andernach Im Supermarkt vergessen, einen Sack Kartoffeln zu kaufen? Kein Problem. Auf dem Weg nach Hause erntet man im Schlosspark so viele Knollen, wie man fürs Abendessen braucht. Zumindest als Andernacher. Die Bürger des pittoresken Rhein-Ortes genießen seit drei Jahren ein besonderes Privileg: Sie dürfen ernten, was im Schlossgarten wächst. Und das auch noch kostenfrei. Nach anfänglicher Skepsis reagieren die Andernacher heute begeistert, sagt Barbara Vogt, Verwaltungschefin und Mit-Initiatorin des Projekts. "Die Stadt ist der Lebensmittel-Punkt der Bürger", lautet einer der griffigen Werbeslogans Andernachs, das sich jetzt als "essbare Stadt" verkauft. Das kommt gut an. So gut, dass man sich auch in klimatisch weniger begünstigten Orten für die Idee interessiert – zum Beispiel in Remscheid.

Angefangen hat es mit einer Permakultur-Anlage im Andernacher Vorort Eich. Fast acht Hektar spendierte die Stadt für nachhaltige Landwirtschaft, mit Streuobstwiesen, für Baum- und Gemüsegärten sowie für artgerechte Tierhaltung. Bis heute sei das die Keimzelle der essbaren Stadt, sagt Vogt. Weil das auf Nachhaltigkeit angelegte Konzept von den Bürgern so gut angenommen wurde, entstand der Plan, das Projekt auszuweiten und ins Herz der Stadt hineinzutragen. "Unsere normalen Grünanlagen waren ohne Pepp, von langweiligen Hecken umgeben und teils von Efeu überwuchert. Da fehlt was, haben wir gedacht", erzählt Vogt.

So wurde der klimatisch begünstigte, aber vom Bewuchs her triste, oft als Hunde-Toilette missbrauchte Schlossgarten in ein Tomatenfeld verwandelt. Mit 101 verschiedenen Tomaten-Sorten startete die "essbare Stadt". Im Jahr darauf folgten 99 Bohnenarten, in diesem Sommer sind Zwiebeln und Kartoffeln an der Reihe. Dazwischen wuchern unter anderem Kräuter, Mangold, Grünkohl und Zucchinis. "Wir suchen immer auch nach ästhetischen Kriterien aus", sagt Vogt. Bei der Auswahl der acht alten Kartoffelsorten wurde zum Beispiel besonders auf Form und Farbe der Blüten geachtet, um auch ein optisch stimmiges Bild zu bieten. Gleich im ersten Jahr brachte diese Umsicht eine Goldmedaille beim Wettbewerb "Entente Florale".

Die anfängliche Skepsis der Bürger habe sich mittlerweile eher in manchmal übereifrige Begeisterung verwandelt. So ernten die Menschen häufig zu früh, aus Sorge, nicht mehr zum Zuge zu kommen. "Einige lassen beim Salat den Strunk stehen, anderen suchen sich aus einem Kohlkopf nur die inneren Blätter heraus", sagt Vogt. Das sei jedoch zu verschmerzen. "Weil wir wirklich mit keinerlei Vandalismus zu tun haben – darauf sind wir besonders stolz." Die Menschen wissen zu schätzen, was da wächst und gedeiht, weil es am Ende ja in ihrem Magen landen kann. Das Motto "Betreten verboten, pflücken erlaubt" wird beherzigt. Was noch nicht so gut funktioniert, ist die Mitarbeit der Andernacher. Um das Unkrautjäten und Bestellen der Ackerflächen kümmern sich Ein-Euro-Jobber und sogenannte Bürger-Arbeiter. Das soll sich ebenfalls irgendwann ändern.

Die Vorstellung, die eigene Stadt in einen Gemüsegarten zu verwandeln, begeistert auch andernorts. Die Liste der Gemeinden, die sich in Andernach informieren, ist lang. Susanne Smolka von der Unteren Landschaftsbehörde in Remscheid sieht mit dem Konzept eine Chance, die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt zu verbessern und die Artenvielfalt zu erhalten. Smolka hat sich privat in Andernach informiert, will den Gedanken der "essbaren Stadt" aber in den Remscheider Gremien diskutieren. "Natürlich haben wir hier andere klimatische Bedingungen", sagt Smolka, sieht jedoch etwa die städtischen Obstwiesen als durchaus geeignet für ein ähnliches Projekt. "Natürlich muss man das alles durchrechnen – ein schönes Thema für Remscheid wäre es aber auf jeden Fall."

Gerechnet haben natürlich auch die Andernacher. Abgesehen von einer Anschubfinanzierung in Höhe von 50 000 Euro kommt die Stadt laut Verwaltungschefin Vogt der Gemüseanbau günstiger zu stehen als die bisherige Wechselbepflanzung der Grünanlagen. Zwischen einem Fünftel und einem Zehntel der bisherigen Kosten wird für die Pflege der Beete veranschlagt. Denn während die Kartoffeln in der Stadt kostenlos zu ernten sind, müssen die Bürger auf der Permakulturanlage dafür bezahlen. Zudem werden die Produkte in einem Innenstadt-Laden verkauft.

Neben den finanziellen Vorteilen nur schwer zu beziffern ist aber der ideelle Gewinn für die Stadt. In Zeiten der permanenten Verunsicherung, was die Herkunft von Lebensmitteln angeht, können die Menschen in Andernach ihren Salat von der Aussaat bis zur Ernte mitverfolgen. Und das ist für die meisten unbezahlbar.

(RP)
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