Alkohol in der Schwangerschaft Das erste Fläschchen

Mönchengladbach · Jede vierte Frau in Deutschland trinkt während der Schwangerschaft Alkohol. Die Folgen spüren die Kinder ein Leben lang.

David (18) weiß, dass es mit ihm nicht einfach ist. Manchmal ist er zwar ein ganz normaler Junge, der gerne Computerspiele spielt, deutschen Rap hört und Harry Potter liest. Aber da sind auch die Wutanfälle, der Ärger in der Schule, die Probleme mit der Polizei. Dass er anders war als andere Kinder, haben Doris Gisbertz und ihr Mann André früh gemerkt. "David war schon als kleines Kind unruhig, aggressiv und motorisch nicht so weit entwickelt wie andere Kinder", sagt Doris Gisbertz. David, das Problemkind, streicht sich mit der Hand die Mütze tiefer ins Gesicht. "Wir dachten, unser Kind sei schwer verhaltensauffällig", sagt Doris Gisbertz mit belegter Stimme. Hätten seine Pflegeeltern nicht irgendwann einen Artikel über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) gelesen, hätten sie vielleicht längst vor David kapituliert.

In dem Artikel ging es um die Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft. Es ging darum, was mit Kindern passiert, deren Eltern denken, dass ein Schlückchen nicht schaden könne. Und es ging darum, was passiert, wenn aus einem Schlückchen mehrere werden und diese das Gehirn des Säuglings ein Leben lang schädigen. FAS ist eine Krankheit, die zu Behinderungen führt. Trotzdem trinkt ein Viertel aller Frauen in Deutschland während der Schwangerschaft. Und es sind nicht nur Mütter aus bildungsfernen Schichten. Studien zeigen, dass gerade Frauen mit höherem sozialen Status und ohne Migrationshintergrund betroffen sind.

Jährlich kommen 2000 Kinder mit FAS auf die Welt. Manche haben fehlgebildete Organe, sind kleinwüchsig oder verhaltensauffällig. Viele FAS-Kinder haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, es fällt ihnen schwer, sich an Regeln zu halten. Häufig haben sie einen vergleichsweise kleinen Kopf. Viele der Symptome treffen auf David zu.

Der Junge kommt mit fünfeinhalb Jahren zur Familie Lubberich-Gisbertz. Gewarnt habe das Jugendamt sie nicht, obwohl Hinweise auf den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft schon im Mutterpass vermerkt wurden, sagt Doris Gisbertz. Möglicherweise übersah man die Hinweise dort. Das Jugendamt Mönchengladbach führt keine Statistiken, wie viele Kinder FAS haben. Die Krankheit sei nicht meldepflichtig, heißt es. Die Gisbertz sind auf sich allein gestellt und fliegen 2010 mit David nach Berlin, zu Hans-Ludwig Spohr. Er leitet an der Charité das FASD-Zentrum. FASD steht für Fetale Alkoholspektrum-Störungen, der Oberbegriff für alle alkoholbedingten Störungen. Der Professor weiß aus zahlreichen Begegnungen mit Patienten, wie häufig Alkoholkonsum in der Schwangerschaft noch immer verharmlost wird - dabei können schon geringe Mengen schädlich sein. Davids Pflegevater schüttelt wütend den Kopf: "Selbst als die Ärzte die Krankheit bereits diagnostiziert hatten, wurde von Amtsseite noch etwas anderes behauptet", sagt er. Für David sei das sehr verwirrend gewesen.

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Foto: dpa, Jens Büttner

Damals, sagt David und beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne, habe er es nicht wahrhaben wollen. Er läuft von zuhause weg, kommt in Pflegeeinrichtungen unter, fliegt immer wieder raus. Dabei wusste er selbst, dass er anders war als die anderen Kinder - schon als kleiner Junge ist er auffällig. Er besucht einen integrativen Kindergarten, doch mit dem Wechsel auf die Grundschule werden die Probleme schlimmer. Beinahe täglich schreibt die Lehrerin Mitteilungen für die Eltern in sein Heft, fast täglich wird er aus dem Unterricht geworfen. "Eine Zeitlang saß ich vor der Tür des Klassenzimmers und habe ihn nach jedem Rauswurf in Empfang genommen", sagt Doris Gisbertz. Sein Verhalten macht aus David einen einsamen Menschen. Niemand versteht, dass er nichts dafür kann.

Auch zu Hause häufen sich die Probleme. Die Familie hat noch drei weitere Kinder, auch sie fordern Aufmerksamkeit, während die Mutter mal wieder mit David streitet. "Sie haben oft gesagt: Du hast David viel lieber als uns", sagt Doris Gisbertz. Die Sätze haben sie verletzt, tun auch heute noch weh. Keine Mutter will sich so etwas vorwerfen lassen. "Es war eine schwierige Zeit mit viel Geschrei und Stress", sagt sie: "Ich war in vielen Situationen echt überfordert."

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Foto: NGZ

Für Jugendämter ist es schwierig, FAS-Kinder zu vermitteln. Viele von ihnen enden im Kinderheim. Zu ihren leiblichen Müttern können sie in der Regel nicht zurück. "Viele schaffen es nicht, ihr Leben in den Griff zu bekommen", sagt Petra Meiers, Fachberaterin bei der Arbeiterwohlfahrt in Düsseldorf. Sie hat seit Jahren mit FAS-Fällen zu tun. Doch ohne Abstinenz könne man das Kind nicht zurückgeben. Denn die Fälle, die Meiers und viele ihrer Kollegen kennenlernen, sind oft extrem. "Wir hatten einmal einen Fall, bei dem die Mutter so betrunken war, dass sie ihr Kind am Kiosk vergessen hat." Man hört sogar von Fällen, in denen schwangere Mütter ihre Kinder nur auf die Welt bringen können, wenn sie während der Geburt mit Alkohol versorgt werden.

Bernd P. machen solche Geschichten wütend - denn auch er kämpft als Bereitschaftsvater täglich mit den Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Seit einigen Monaten betreut er im Auftrag des Jugendamtes ein Baby. Das Mädchen ist nicht mal ein Jahr alt. Auch seine Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken. Auch hier lautet die Diagnose: FAS. "Dieses Kind wird aller Voraussicht nach dauerhafte Schäden haben", sagt Meiers. Gleich nach der Geburt wurde es der Mutter vom Jugendamt weggenommen, über die Awo kam sie zu Bernd P.

Bereitschaftseltern kümmern sich in den ersten Monaten nach der Geburt um ein Kind. Sie sollen ihnen ein stabiles Umfeld bieten. Danach, so die Hoffnung, ist eine Pflegefamilie bereit, das Kind aufzunehmen. Doch obwohl es ein friedliches und fröhliches Baby ist und die Therapiemaßnahmen anschlagen, stehen die Chancen schlecht: "Sobald Pflegeeltern von den Alkoholschäden erfahren, gibt es Bedenken", sagt Bernd P. Dem Aushilfsvater bleibt daher nichts anderes übrig, als sich so gut wie möglich zu kümmern - und zu hoffen. Theoretisch ist sogar eine Rückkehr zur Mutter möglich. Erste Kontaktversuche hat es bereits gegeben. Unter Aufsicht der Awo durfte sie ihr Kind sehen. "Die ersten beiden Male roch sie stark nach Alkohol", sagt Bernd P. Den Bereitschaftsvater macht das wütend. Er wünscht sich schärfere Gesetze: "Für das Kinderkriegen gibt es keine Promille-Grenze, beim Autofahren aber schon. Das finde ich absurd."

Auch David hat seine leibliche Mutter kennengelernt. Seine Stimme klingt gleichgültig, wenn er an die Begegnungen denkt, doch seine Finger knibbeln nervös an der Haut neben dem Fingernagel: "Am Anfang war ich sauer auf sie, dann nicht mehr." Inzwischen hat er den Kontakt abgebrochen. Doris Gisbertz bezweifelt, dass Davids Mutter ihr Verhalten bereut. In einem Gerichtsprozess um das Sorgerecht habe der Richter Davids Behinderungen aufgeführt, die durch Alkoholmissbrauch der Mutter entstanden sind. "Sie hat nur gelacht", sagt Doris Gisbertz. Inzwischen lebt Davids leibliche Mutter, die ihn mit 25 Jahren auf die Welt brachte, unter der Obhut eines Betreuers - ohne ihre Kinder: Davids sechs Geschwister leben in Pflegefamilien.

Weniger als zehn Prozent der FAS-Kinder können in Deutschland später eigenständig leben. Auch David wird wohl immer auf Unterstützung angewiesen sein. Er arbeitet im Moment bei Prospex in Heinsberg, einer Einrichtung für seelisch-behinderte Menschen. Es ist ein einfacher Job, Archivarbeit, aber er macht ihn gerne. Vielleicht, hofft David, könne er langfristig dort weiterarbeiten. Letztlich ist alles eine Frage des Geldes. Mit 18 Jahren fallen die FAS-Kinder aus dem staatlichen Raster heraus. Adoptiveltern müssen anschließend alle Kosten selber tragen. Auch Familie Lubberich-Gisbertz streitet sich mit dem Jugendamt vor Gericht über Leistungen. "Wir wollen für David eine angemessene Betreuung", sagt André Lubberich-Gisbertz.

Ein normaler Junge wird David nie sein, doch vielleicht kann er irgendwann in eine eigene Wohnung ziehen. Vor seiner Einweisung in die Psychiatrie, in der er derzeit lebt, hatten seine Eltern überlegt, ob sie neben ihrem Haus eine Wohnung ausbauen. Dann könnten sie für ihn da sein, wenn er sie brauchte. Weil seine leibliche Mutter zu schwach war.

(frin)
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