100 Jahre Düsseldorf
Als Elisabeth Becker in der Flurklinik geboren wurde, regierte noch Kaiser Wilhelm II. Sie erlebte zwei Weltkriege, dazwischen Arbeiter-Unruhen und Inflation. Sie sah, wie das Wilhelm-Marx-Haus und der Tausendfüßler gebaut wurden. Und bis vor ein paar Jahren saß sie noch selbst am Steuer.
Hunderttausend Düsseldorfer erblickten an der Flurstraße das Licht der Welt: Bis 2002 war dort, wo heute Wohnungen und eine Szene-Kneipe beheimatet sind, die stark frequentierte Frauenklinik. "Kinderfabrik" wurde sie augenzwinkernd genannt. Als Elisabeth Becker, damals Bruns, dort zur Welt kam, war die Flurklinik gerade mal zwei Jahre alt. Es war der 13. Februar 1912 – "und für meine Mutter eine Enttäuschung, denn ich sollte ein Junge werden". Elisabeth Becker lächelt bei dem Gedanken.
Erst wenige Wochen ist es her, dass sie prominenten Besuch in ihrem Zimmer mit Parkblick im Luisenheim hatte. Bürgermeisterin Gudrun Hock und Fotografen waren gekommen, um ihr zum 100. Geburtstag zu gratulieren. Ihre Tochter Wilma (73) organisierte mit der Familie ein kleines Fest zum Jahrhundert-Geburtstag. Ihr Leben, das sind 100 Jahre Düsseldorf.
Damals regierte noch Kaiser Wilhelm II. das Land. Dessen Geburtstag, der 27. Januar, wurde im gesamten Reich gefeiert. Auch in Düsseldorf. Die kleine Elisabeth sang "Heil, Kaiser, dir!" aus der Kaiser-Hymne und schwenkte das Fähnchen. So lange, bis es in Fetzen hing. "Was wussten wir schon, wer der Kaiser war? Der war für uns Kinder doch ein Mann wie jeder andere."
Ihre frühe Kindheit war vom Ersten Weltkrieg geprägt. Am Bilker Bahnhof kamen jeden Tag Züge mit Verletzten an. Die wurden ins Kloster an der Herzogstraße gebracht, wo Dominikaner sie gesund pflegten. Lebensmittel waren knapp. Wenn die Kinder Hunger hatten, gab's ein Stück Steckrübe zum Kauen. "Da konnte man schön knatschen", sagt Becker und lacht.
Bis vor vier Jahren ist sie noch selbst Auto gefahren, hat bis vor zwei Jahren alleine in ihrer Wohnung in Alt-Eller gewohnt. "Als ich vor 70 Jahren dorthin zog, war es ein richtig kleines Dorf." Doch nach einem Sturz machten ihre Beine nicht mehr mit. Jetzt ist das Luisenheim ihr Zuhause. "Ich werde bestens versorgt, habe aber auch mein Ich verloren", sagt sie. Sie sei seit 1965 Witwe, "und musste für alles alleine geradestehen". Da ist es schwer, sich an fremde Vorgaben zu gewöhnen – wie das Mittagessen um 11.30 Uhr. "Und mit den Bewohnern kann man sich nur über Krankheiten unterhalten." Becker schüttelt den Kopf. Da bleibt sie lieber auf dem Zimmer, löst Kreuzworträtsel, liest ein Buch. "Der Medicus" oder "Mein linker Fuß".
Ihre prägendste Kindheitserinnerung ist die an die Arbeiterunruhen, die Düsseldorf 1919 für Wochen lahmlegten. In Oberbilk, wo ihre Eltern wohnten, beschlagnahmte "die Rotfront" ihre Katholische Schule, prügelte sich mit der Reichswehr. Aus Sicherheitsgründen wurde sie ins Linksrheinische auf einen kleinen Bauernhof gebracht. Das Heimweh trieb das Kind jedoch zurück nach Hause.
1924, Elisabeth Becker war zwölf Jahre alt, wurde in Düsseldorf das erste Hochhaus Deutschlands eröffnet, das Wilhelm-Marx-Haus. Zwei Jahre später schloss das Mädchen die Schule ab, machte eine Lehre im Feinkostladen an der Scheurenstraße, wo sie zehneinhalb Jahre blieb. "Ich musste um 7 Uhr anfangen und kam selten vor 21 Uhr raus." Erst 1936, als sie ihren Mann Hans heiratete, begann für sie das schöne Leben. "Wir gingen aus und spazieren, machten unsere Hochzeitsreise an die Mosel." Das Reisen ist später ihre Leidenschaft geblieben. Besonders Marokko hat sie beeindruckt. 1939 kam Tochter Wilma zur Welt. Den Zweiten Weltkrieg hat ihre Familie unverletzt überlebt. "Darüber muss ich mich heute noch wundern." Nach Krieg und Wiederaufbau kam das Wirtschaftswunder. Nicht aber für Familie Becker: "Wir hatten 1000 Wünsche, aber nicht 1000 Mark im Portemonnaie." Der Hofgarten mit dem Café auf dem Ananasberg war ihr Ausflugsziel. Nebenan hat sie 1962 die Eröffnung des Tausendfüßlers erlebt. Die aktuelle Debatte um den geplanten Abriss der Hochstraße verfolgt sie: "Meine Tochter ist für den Erhalt. Aber so schön ist der doch nicht."
Und welchen Tipp hat sie für ein langes Leben? "Nicht hungern, aber auch nicht üppig leben. Immer schön im Rahmen bleiben."
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