Vielleicht - vielleicht auch nicht Wie Corona für eine neue Unverbindlichkeit gesorgt hat

Bonn · Angesichts der endemischen Phase atmen viele Menschen auf. Zugleich scheinen sich manche an den corona-bedingten Rückzug gewöhnt zu haben. Doch allzu große Unverbindlichkeit kann für Schaden sorgen.

Manchen Menschen fällt es nach der Pandemie ernsthaft schwer, wieder physisch in Beziehung mit anderen Menschen zu treten.

Manchen Menschen fällt es nach der Pandemie ernsthaft schwer, wieder physisch in Beziehung mit anderen Menschen zu treten.

Foto: dpa-tmn/Christin Klose

Eventmanagerinnen und Veranstalter beobachten es ebenso wie viele Menschen im privaten Umfeld: Tickets werden häufiger an der Abendkasse gekauft, Verabredungen kurzfristig abgesagt. Sich weit im Voraus festzulegen, scheint in Corona-Zeiten aus der Mode gekommen zu sein: Warum planen, wenn ohnehin unklar ist, welche Regeln in ein paar Wochen gelten - und ob das eine oder andere nicht doch wieder ausfallen muss.

„Eine gewisse Mutlosigkeit gegenüber den Möglichkeiten, die das Leben bietet, scheint ein Phänomen unserer Zeit zu sein“, sagt die Schriftstellerin Tamar Noort. Für viele Menschen sei es nicht einfach, sich auf den Wegfall vieler Beschränkungen einzustellen. „Obwohl das Leben in der Gemeinschaft wieder stattfindet, gibt es eine gewisse Entwöhnung, vielleicht auch keine so große Lust, sich wieder in dieses Leben hineinzustürzen.“

Nach Einschätzung des Psychotherapeuten Hans-Christoph Friederich betrifft diese „neue Unverbindlichkeit“ insbesondere jüngere Menschen. „Durch die Einschränkungen während der Pandemie haben sie bestimmte Entwicklungsphasen ganz anders erlebt“, erklärt er. Nun möge es manchem ernsthaft schwerfallen, wieder physisch in Beziehung mit anderen Menschen zu treten.

Friederich sieht dies mit Sorge. Zwar könne die Erfahrung „ich kann auch alleine“ dazu beitragen, sich selbst zu stabilisieren. Auch zur gezielten Selbstfindung oder im Rahmen eines „Retreats“ könne ein vorübergehender Rückzug sinnvoll sein. Doch sei etwa eine Auszeit im Kloster etwas ganz anderes als „einfach zu Hause zu bleiben“. Wer sich bewusst entscheide, die Scheinwerfer für eine Weile nach innen zu richten, zu meditieren oder zu beten, könne durchaus bestärkt daraus hervorgehen.

Auf Dauer jedoch erlebten die wenigsten Menschen einen sozialen Rückzug als befriedigend. „Soziale Verarmung führt zu emotionaler Verarmung“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. So hänge es meist mit Ängsten zusammen, wenn Menschen sich langfristig nur noch in den eigenen vier Wänden wohl und sicher fühlten. Aus seiner Sicht handle es sich in den allermeisten dieser Fälle um ein trügerisches Wohlgefühl, „denn es liegt in der Natur des Menschen, neue Erfahrungen zu suchen, die Umwelt zu erkunden und anderen begegnen zu wollen“.

Auch der Religionspsychologe Lars Allolio-Näcke sieht die Thematik als Generationenphänomen. „Für viele junge Menschen spielt Verbindlichkeit schlicht keine Rolle mehr, ist es gang und gäbe, ein Treffen eine halbe Stunde vorher abzusagen.“ Dadurch wandle sich der Begriff von Freundschaft, ebenso zeigten sich Auswirkungen in beruflichen Zusammenhängen.

Er rechne damit, dass die Digitalisierung künftig noch stärker in die physische Welt und in die zwischenmenschlichen Beziehungen eingreifen werde. Dass die neuen Kommunikationsmedien eine Rolle spielen, betont auch Friederich: „Es fällt viel leichter, eine Videokonferenz abzusagen oder sich nachträglich zu entschuldigen.“ Bei Präsenzterminen werde eben dies, die physische Präsenz einer Person, viel stärker wahrgenommen als eine Kachel mehr oder weniger auf Bildschirmen.

Bei allen Vorzügen, die digitale Medien während und nach der Pandemie böten, trügen sie doch auch zum Stress bei, sagt der Psychotherapeut. Das betreffe einerseits die Informationsflut, über die viele Menschen klagten. Andererseits verstärke das permanente Online-Geschehen das Gefühl, dass irgendwo anders gerade jetzt doch noch etwas Besseres, Interessantes stattfinden könnte. Dieses Phänomen wurde bereits in den 1990er Jahren beschrieben und ist inzwischen als „FOMO - fear of missing out“ bekannt.

Viele Unsicherheiten belasteten die Menschen weiterhin, sagt auch die japanisch-österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flasar. „Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist, immer wieder bewusst in Kontakt zu treten“, sagte sie kürzlich der Zeitschrift „Psychologie Heute“.

Den Kontakt mit anderen zu wagen und aufzubauen, sei aus ihrer Sicht „eine Art Selbstverpflichtung“. Im Alltag kündigten Menschen oft an, sich bei jemandem zu melden - und täten es dann doch nicht, so Flasar. „Man kann sich nicht bei allen melden. Aber die Personen, denen man sich verbunden fühlt, brauchen auch Zuverlässigkeit und Einsatz. Nur so kann die Beziehung wachsen.“

Zudem kämen kleine Momente der Nähe im Alltag oft zu kurz. „Man ist ja ständig in Aktion“, sagte Flasar. „Ich kenne viele Leute, die sagen, sie haben gar keine Zeit, gar keine Ressourcen, gar keine Energie mehr, neue Freundschaften zu knüpfen. Das ist etwas traurig, dass man so eingeschränkt wird oder sich selbst einschränkt.“ Häufig „versäumen wir etwas im alltäglichen Kontakt, sind viel zu reserviert und abgegrenzt“.

Friederich betont den hohen Stellenwert von Alltagskontakten ebenfalls. Sie trügen zu einem Grundgefühl von Vertrauen und Sicherheit bei. „Zwischenmenschliches Vertrauen beruht immer auch auf einer gewissen Körperlichkeit, dem Händeschütteln oder Umarmen zur Begrüßung.“ Dass viele Menschen dies vermissten, verdeutliche, dass allzu viel Unverbindlichkeit „für die meisten Menschen eher schädlich ist“.

(boot/kna)
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