In den Straßen von Tanger Willkommen im Dreieck des Bösen

Tanger (RPO). Er heißt wie Marokkos König, doch dieser Mohammed hat nicht den Zusatz VI. hinter seinem Namen – er ist einer unter vielen. Er sitzt im weißen Hemd mit blauen Längsstreifen, die zu seiner hellblauen Krawatte passen, in einem Café der Stadt und erzählt von seinem Leben. "Firmen, Händler, Regierung – das ist das Dreieck des Bösen", sagt Mohammed.

Mit dem Speedboat nach Tanger
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Tanger (RPO). Er heißt wie Marokkos König, doch dieser Mohammed hat nicht den Zusatz VI. hinter seinem Namen — er ist einer unter vielen. Er sitzt im weißen Hemd mit blauen Längsstreifen, die zu seiner hellblauen Krawatte passen, in einem Café der Stadt und erzählt von seinem Leben. "Firmen, Händler, Regierung — das ist das Dreieck des Bösen", sagt Mohammed.

Der 36-Jährige ist Fremdenführer in der marokkanischen "Sommerhauptstadt" Tanger, zumindest in den Frühlings- und Sommermonaten. Im Winter arbeitet er als privater Englischlehrer, da dann der Tourismus abebbt. Er hält sich so über Wasser, denn Geld für die Wintermonate zu Seite legen, kann er nicht: "Wir bekommen kein Gehalt", erklärt Mohammed und beschreibt sein "Dreieck des Bösen": Das Unternehmen, für das er arbeitet, bezahle ihm kein Festgehalt und die Regierung unterstütze ihn auch nicht. Sein einziges Einkommen als Fremdenführer resultiert aus den Spenden der Touristen und ihrer Kaufkraft, denn wenn die Kurzzeitgäste bei den Straßenhändlern und in Geschäften einkaufen, erhält der Tourguide bis zu zehn Prozent Provision. Doch die Zahl der freien Händler steigt und dadurch sinkt die Provision - die dritte Ecke des "Bösen". Noch schlimmer: Kaufen die Touristen nicht, verdient Mohammed nichts. "Wir müssen kämpfen", sagt er mit traurig-ernstem Blick aus seinen dunkelbraunen Augen.

Warum er für ein Unternehmen arbeitet, das ihn nicht bezahlt, kann er nicht ohne weiteres beantworten. Er zuckt mit den Schultern, ein schiefes Lächeln zieht sich über sein Gesicht. "Wenn wir sagen, wir wollen Gehalt haben, sagen uns die Firmen: 'Es gibt genug, die das kostenlos machen.' Wir haben da keine Wahl."

Mit Bachelor auf Stufe 10

Dabei spricht Mohammed fließend englisch, französisch und natürlich arabisch. Er ist qualifiziert, Touristen durch die Millionenstadt zu führen, doch nicht qualifiziert genug, um damit auch Anspruch auf ein Festgehalt zu haben. "Ich habe einen Bachelor-Abschluss", sagt Mohammed und zuckt kurz mit den Schultern, sein Blick wird hart. "Damit stehe ich auf Stufe zehn hier im Land. Aber erst ab Stufe elf würde mich die Regierung unterstützen. Dabei arbeite ich doch eigentlich für sie. Ich mache Werbung für unser Land, das wollen sie. Aber bezahlen wollen sie dafür nicht." Wieder ein trauriger Blick aus den dunkelbraunen Augen. "Ich habe nur eine Arbeitserlaubnis."

Zwar gibt es in Marokko nur wenige Jobs mit Festgehalt und fast keine Zuwendungen der Regierung — Arbeitslosengeld etwa ist ein Fremdwort —, doch dafür müssen auch die Bürger dem Staat nicht allzu viel zahlen. "Steuern?", fragt Mohammed und legt den fast kahlgeschorenen Kopf schräg. "Ja, für die Arbeitserlaubnis müssen wir etwas bezahlen. Manche müssen 500 Euro, ich zahle 100." Im Monat? Mohammed schüttelt den Kopf. "Im Jahr."

Sein "Dreieck des Bösen" umfasst neben den Unternehmen, die keine Gehälter zahlen, und der Regierung, die nichts für ihn tue, noch die Händler, denn die werden immer mehr auf Tangers Straßen. Sie schneiden die Touristen systematisch von den Fremdenführern ab, wollen schnell eine Kette, ein geschnitztes Holzkamel, einen Armreif verkaufen, ohne dass die "Guides" das mitbekommen — die Provision könnte gespart werden. "Das wird mittlerweile ein gesellschaftliches Problem", sagt Ahmed, unser zweiter Fremdenführer in Tanger, mit Blick auf einen vielleicht achtjährigen Jungen mit großen, flehenden Augen, der den Touristen Taschentuch-Päckchen für ein paar Cent anbietet. "Die Kinder sehen, dass sie keine Arbeit lernen müssen, dass sie das Geld einfacher auf der Straße verdienen können. Das wird wirklich zu einem Problem", befindet Ahmed. Er spricht fließend spanisch und deutsch, hat unter anderem in Düsseldorf-Gerresheim gewohnt. "Der Unterbacher See ist sehr schön", sagt er lächelnd.

Anders als sein Kollege Mohammed setzt Ahmed nicht auf lange Hose und Hemd, sondern mischt dank Kaftan und Käppi europäischen und afrikanischen Kleidungsstil. Er hat sich mit seinem Leben als "Guide" arrangiert — Mohammed dagegen hat einen großen Traum: "Ich möchte mich spezialisieren", erzählt er. Etwa Touren durch Tanger anbieten, die nicht auf die reine Kaufkraft der Touristen setzen, sondern auf ihr Interesse für die Kultur. Da habe er gute Erfahrungen mit Deutschen, Kanadiern und einigen Amerikanern gemacht, berichtet Mohammed. Diese seien weniger daran interessiert, zu kaufen, als zu erfahren, was in Marokko passiere, wie die Geschichte der Stadt ist, und so weiter.

Das gefällt Mohammed selbst auch besser, als die Touristen in ein Geschäft nach dem anderen zu lotsen. Unter den 28 Touristen, die Mohammed und Ahmed diesmal durch Tanger führen, sind nur zwei Deutsche. Das Gros bilden Spanier, die froh sind, wenn sie auf eine Shopping-Tour geführt werden, bei der sie noch ein paar Schnappschüsse machen können. Dabei bietet Tanger als Stadt so viel mehr als nur Schmuck und Handarbeit. Im Sommer ist sie nahezu überfüllt - der kilometerlange Sandstrand lockt Einheimische wie Touristen.

Stadt der Gegensätze

Letztere müssen sich aber bewusst sein, dass hinter einer breiten Prachststraße direkt wieder ein Gewirr von verwinkelten Gassen beginnt, in denen es nach Fäkalien riecht. Tanger ist eine Stadt der Gegensätze. So durcheinander gewürfelt, wie sie vom Speedboat aussieht, das täglich mehrmals zwischen dem spanischen Tarifa und Tanger pendelt, so vielfältig ist sie auch. Frauen und Männer in goldgestickten Kaftanen mischen sich mit denen, die Jeans und Disney-T-Shirts bevorzugen. Eine Musiker-Gruppe spielt traditionelle Instrumente - mittendrin zieht einer von ihnen sein Handy vom Ladekabel. Zum Mittagessen gibt es typisch Marokkanisches: Eine leicht scharfe Suppe, Falaffel (Hackfleisch am Spieß), Reis mit Hähnchen und zum Abschluss einen Pfefferminztee — über den Dächern der Stadt thront das McDonalds-Zeichen.

Tanger wurde im 5. Jahrhundert von den Karthargern gegründet, die Herrscher wechselten aber immer wieder. Römer, Araber, Portugiesen, Spanier und Briten. Die Gegensätze der Stadt sind Ausdruck der wechselhaften Historie, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts einen Höhepunkt erlebte: 1923 wurde die Stadt und ein Gebiet um sie herum zur internationalen Zone erklärt, Tanger wurde von Franzosen, Spaniern, Briten und Italienern verwaltet. Noch heute finden sich "Viertel" dieser Nationen und ihre Botschaften in der Stadt.

So wechselvoll die Geschichte Tangers ist, die meisten Touristen interessieren sich nicht dafür, sondern eher für die extrem günstigen Silber- und Lederwaren. Diese Erfahrung hat Mohammed gemacht — glücklich wird er damit nicht. Daher sein Wunsch: "Ich möchte eine eigene Homepage haben, damit ich direkt Kontakt zu Touristen herstellen kann", erzählt er. Dann bräuchte er keine Firmen mehr — und würde sein "Dreieck des Bösen" sprengen.

Ein 20-Euro-Schnippchen

Einstweilen bleibt es ein Traum, die Realität sieht so aus: Jemand kauft eine Lederjacke — alleine. Mohammed sieht die beige Plastiktüte, in die der Händler die Jacke gequetscht hat, und fragt: "Du hast etwas gekauft?" Der Tourist nickt. "Eine Lederjacke." Mohammed schaut traurig. "Es wäre besser gewesen, wenn ich dabei gewesen wäre. Das wären mindestens 20 Euro für mich gewesen." Durch den Alleingang entgeht ihm die Provision.

"In welchem Laden war das?", fragt Mohammed. Der Tourist zeigt die Straße nach unten. "Bei diesem Händler? Einem dicken Mann mit Glatze?" Der Tourist nickt. Die Gruppe bewegt sich weiter, Mohammed geht auf das Geschäft zu, ein etwa acht Quadratmeter langer Betonschlauch, in dem jeder Zentimeter mit Lederwaren bedeckt ist, und winkt. Er redet auf den Händler ein, gestikuliert, deutet auf den Touristen. Der Händler nickt, Mohammed bekommt doch noch seine Provision. Diesmal hat er seinem "Dreieck des Bösen" noch ein Schnippchen geschlagen.

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