Unter dem wachen Blick der Götter

Die Königsstadt Kathmandu wirkt auf den Besucher wie ein Wimmelbild: Kühe teilen sich mit Motorrädern die Straße, und begleitet vom Rattern der Gebetsmühlen wird an jeder Ecke eine andere Gottheit verehrt – eine Reise für alle Sinne.

Sanjay verkauft Glück am laufenden Meter. In diesen Tagen ist das Geschäft seiner Familie mitten in Kathmandu der Treffpunkt fürs ganze Viertel. Der 26-jährige Nepalese wickelt im Akkord 6000 Meter Schnur auf große Holzspulen. Das sollte reichen, um flatternde Papierdrachen Richtung Himalaya-Gipfel lenken zu können – das hoffen zumindest seine Kunden.

"Happy Dashain" wünscht Sanjay dem kleinen Kunden, der die neue Leine gerade stolz an seinem selbst gebastelten Drachen aus Plastiktüten befestigt. Da wird Götterverehrung zum Kinderspiel. "Wer den Himmel am längsten küsst, der hat anschließend am meisten Glück. Und dafür braucht man eine robuste Schnur", erklärt Sanjay das bevorstehende Dashain-Fest für die Muttergöttin Durga. Es ist das Geschäft des Jahres für die nepalesische Familie. 40 000 Drachen werden in diesen Feiertagen hier im Zentrum der Hauptstadt Nepals verkauft – alles zu Ehren der verspielten Göttin. Auch das Schwingen auf riesigen Bambusschaukeln gehört zum Brauch dazu. Wenn man beim Schwingen auf der Schaukel den Boden verlässt, werden alle schlechten Gefühle fortgenommen – so der Glaube der Nepalesen. Aber Durga kann auch anders. Sie fordert Huhn gegen Job – Wasserbüffel gegen hübsche Schwiegertochter. Dazu ein Blumenkranz, einige Räucherstäbchen, ein paar Spritzer Kokosnuss-Saft – und die Opfergabe ist perfekt.

In Kathmandu dreht sich alles um das Wohl der Götter. In den engen Gassen reiht sich ein Heiligtum ans nächste. Shiva, Vishnu, Ganesh, Durga – die Millionenstadt erscheint beinahe wie eine riesige Wohngemeinschaft für Götter. An jeder Ecke beobachtet hier eine andere steinerne Skulptur von ihrem Schrein aus das geschäftige Treiben. Da mischen sich auf den Straßen Hupkonzerte mit dem Blöken von Ziegen, und Affen brüllen um die Wette mit den Büffeln und Hähnen, denen das letzte Stündlein bei einer Tieropferung bevorsteht.

Der Tourist steht in den Gassen und lässt das Wimmelbild Kathmandu auf sich einprasseln: Eine lebendige Ziege auf dem Dach eines Autos im Feierabendverkehr, Frauen, die frisch gebrannte Ziegelsteine auf dem Kopf durch die engen Gassen balancieren, und heilige Kühe, die sich mitten auf der Hauptstraße zwischen Tuk-Tuks, Motorrädern und Bussen ein Mittagsschläfchen gönnen. Staunend blickt man sich in der fremden Welt um. Und entdeckt dabei wieder ein ungewöhnliches Motiv: Der Blick bleibt an einem leuchtend orange gekleideten Mann hängen, der im Schneidersitz auf einem hölzernen Blumenwägelchen hockt. Gesicht und Arme sind gelb und weiß geschminkt – das Erkennungszeichen der Sadhus, der Heiligen Männer. Er murmelt ein Mantra vor sich hin. Sadhus sind Heilige auf Wanderschaft, die von einem Heiligtum zum nächsten pilgern, ohne Familie und ohne Besitztümer. "Ich bin so etwas wie ein Übersetzer. Die Menschen kommen mit einem Wunsch zu mir, und ich bitte Gott für sie darum. Wenn sie für mich opfern, bekommen die Menschen Nirvana", erklärt der Asket. Er hält im Gegenzug die Hand auf für Geld oder etwas zu essen. Eine Gläubige zündet ihm ein Räucherstäbchen an, steckt ihm ein paar Rupien zu, und schon verstummt der orange-geschminkte ältere Herr wieder. Mit entrücktem Blick stimmt er erneut in sein Mantra ein, und die Rauchschwaden des Holzstäbchens breiten sich um seinen Bart aus.

Die Entdeckung der Königsstadt Kathmandu ist eine Reise für alle Sinne. Von der nepalesischen Hauptstadt können Touristen ebenfalls noch eine Zeitreise antreten. In wenigen Taximinuten gelangen sie in die beiden anderen Königsstädte Bhaktapur und Patan und fühlen sich um Jahrhunderte zurückversetzt. Mit ihren Tempeln, Pagoden, Schreinen und Heiligtümern erinnern die Hauptplätze eher an riesige Freiluftmuseen.

Hat man sich an hinduistischen Göttern während seiner Reise durch die Königsstädte einmal sattgesehen, muss man nur nach Bodnath – ein kleines Viertel in Kathmandu. Plötzlich meint man mitten im buddhistisch geprägten Tibet zu sein: Pilger drehen rund um den größten Stupa Nepals unermüdlich ihre Runden. Die Gebetsfahnen flattern im Wind, tibetische Mönche lassen die Gebetsmühlen im Takt rattern – und umkreisen immer schön im Uhrzeigersinn das steinerne Heiligtum, siebenmal unter dem wachen Blick Buddhas, der mit seinen Augen das Geschehen verfolgt – und ebenfalls das Schicksal der Menschen in die richtigen Bahnen lenkt. Der Beistand der Götter ist dem Besucher in Nepal in jedem Fall gewiss.

(RP)
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