Schweiz: Auf den Spuren von Wilhelm Tell Nur die besten Aussichten
Schweiz · In Wanderschuhen das Herz der Schweiz entdecken: Der Tell-Trail umrundet in acht Etappen Luzern und den Vierwaldstättersee. Der Nationalheld ist zwar ein Mythos, die Alpenpanoramen aber sind real. Bei der Tour geht es zu Fuß und per Bergbahn in höchste Höhen.
Was für ein Panorama! Könnte man sie kaufen, wäre diese Aussicht Millionen wert – ach was, hier in der Schweiz bei diesem Kaiserwetter sogar Milliarden! Früher eine legendäre Postkartenlandschaft, ist das nun die perfekte Kulisse für Instagram. Unten liegen Urnersee und Vierwaldstättersee, auf dem historische Dampfschiffe ihre Runden drehen. Man sieht, als grüner Fleck zwischen weißen Felsen, die Rütli-Wiese, der Legende nach Gründungsort der Eidgenossenschaft. In der Ferne erheben sich Berge wie der Pilatus und die Rigi, auf der anderen Seite die schneebedeckten Gipfel der Hochalpen. Lässt sich das noch toppen?
Knapp unter der 2000er-Marke verläuft der Weg auf dem Grat vom Klingenstock zum Fronalpstock. Es ist die zweite von acht Etappen des Tell-Trails, der in 156 Wanderkilometern von Altdorf in einem weiten Bogen hinauf auf das Brienzer Rothorn führt, einmal mitten durchs Herz der Schweiz. Das geht nur im Sommer, wenn die Wege schneefrei sind. Die Tour ist anspruchsvoll, man muss trittsicher und schwindelfrei sein. Den Rest erledigen Heinzelmännchen im Hintergrund: Die Unterkünfte sind vorgebucht, der Gepäcktransport organisiert.
„Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren“, heißt es bei Friedrich Schiller in seiner Tell-Erzählung. Als Flachländer deckt man sich in Luzern aber unweit der berühmten hölzernen Kapellbrücke noch mit Gute-Laune-Snacks ein und übt den Zungenbrecherdialekt. Auf der Einkaufsliste: Chatzestreckerli (Schnitten mit Aprikosen und Mandeln) und Rägetröpfli, Pralinen mit Kirsch-Schoko-Füllung.
Kalorien muss beim Tell-Trail niemand zählen: 7126 Höhenmeter im Aufstieg, 8176 Höhenmeter im Abstieg sind zu bewältigen. Eigentlich wäre es noch viel mehr, würde man nicht immer wieder Bus, Bahn und auf dem Vierwaldstätter See auch das Schiff nutzen. Die Unterstützung ist hier kein Delikt gegen die Ehre als Wanderer, denn die Transportmittel sind selbst eine Attraktion. Die steilste Standseilbahn der Welt bringt einen ins Bergdorf Stoos, die älteste Bergbahn Europas auf die Rigi, die steilste Zahnradbahn der Welt vom Pilatus ins Tal.
Auf dem Tell-Trail nimmt man aber nicht nur die schönsten Aussichtsberge der Zentralschweiz mit. Altdorf ist jener Ort, wo Wilhelm Tell mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen musste – erzählen die Leute. Dass es Wilhelm Tell nie gegeben hat, darüber sind sich die Historiker einig.
Doch der Mythos um den Schweizer Freiheitshelden lebt weiter. In Tells „Geburtsort“ Bürglen erzählt ein gut gemachtes Museum seine Heldengeschichte neu und stellt die richtigen Fragen. Wann ist es gerecht, jemanden zu töten, um Gewalt zu verhindern? Was bedeutet uns Freiheit heute? Und tut man selbst genug dafür?
Über all das kann man beim Wandern in Ruhe nachdenken: Viel los ist hier nie. Auch nicht an Tag fünf, bei der Etappe von Stans nach Engelberg, als man schon gut eingelaufen ist. Es gilt, 25 Kilometer Strecke zu bewältigen, dazu unterwegs 1501 Höhenmeter hinauf und 2375 Höhenmeter herunter. „Die beste Aussicht kommt nach dem härtesten Aufstieg“: Das hat zwar nicht das Dichterniveau von Friedrich Schiller und klingt mehr nach Kaffeetassenspruch, passt aber perfekt. Denn die zweistöckige Cabrio-Bahn bringt einen nur aufs Stanserhorn, danach muss man dreieinhalb Stunden lang steil bergauf. Aufs Wandern folgt das Kraxeln: Die Felspassage Wagenleis klappt dank Eisentritten, Ketten und Seilen.
Der Legende nach hörten einige Benediktinermönche einst Engelsstimmen vom Gipfel des Hahnen, wie der Titlis ein Berg in den Urner Alpen, und gründeten im Tal ein Kloster. Heute ertönt dort die größte Orgel der Schweiz bei Konzerten im Engelberger Orgelsommer. Wer Glück hat, ist also vor Ort, wenn die 9000 Pfeifen erklingen – alle anderen Wanderer erleben garantiert ein tierisches Orchester auf der nächsten Etappe. Die Seilbahn bringt einen hoch zum Jochpass, wo die nächsten Stunden überall das Gebimmel der Kuhglocken zu hören ist.
Ein Höhenweg führt über die Bergwiesen, bis man auf der Tannalp bei Arnold Bucher vor der Tür steht. „Von Mitte Juli bis Ende August bringen 30 Bauern ihre Kühe hoch zu uns auf die Weide“, erzählt er. Die frische Rohmilch wird von seinem Team auf über 1900 Metern zu Butter und Joghurt, vor allem aber zu Alpkäse verarbeitet. Der Name verpflichtet: „Im Gegensatz zu Bergkäse muss die Milch für Alpkäse von frei auf den Almen weidenden Kühen stammen. Und statt die Milch quer durchs Land zu fahren, wird sie gleich vor Ort verarbeitet.“
Eine Spezialität der Zentralschweiz, hergestellt in Handarbeit in Kupferkesseln, ist der Sbrinz: 18 Monate lagert der Hartkäse, bis er in den Verkauf darf – richtig entfalten sich die Aromen aber erst, wenn man zwei Jahre oder länger wartet. Wie Parmesan (den Namen der italienischen Konkurrenz nehmen patriotische Schweizer nur höchst ungern in den Mund) wird der Sbrinz nicht geschnitten, sondern gerieben oder gebrochen. Wanderern sieht man aber nach, wenn sie für ihre Brotzeit keinen traditionellen Sbrinz-Stecher mitführen: Ausnahmsweise darf man also auch mit dem Taschenmesser ein Stückchen abschneiden.
„Es lächelt der See, er ladet zum Bade“, wusste in Schillers Wilhelm Tell der Fischerknabe: Schlaue Wanderer haben also eine Badehose dabei, damit sie am Blausee oder Melchsee kurz ins Wasser hüpfen können. Sonst reicht es aber auch, kurz die Füße reinzuhalten: Wirklich warm ist das Wasser hier, zwischen 1850 und 1975 Metern Höhe, auch im Hochsommer nicht. Das Ziel ist die Älggialp, der geografische Mittelpunkt der Schweiz. Zum Abendessen gibt’s eine Riesenportion Älplermagronen, ein Wohlfühlgericht aus Makkaroni, Käse und Zwiebeln; zum Nachtisch Erdbeer-Vanille-Eis in Form der Schweizer Flagge.
Die letzte Etappe führt von Lungern zum Brienzer Rothorn, mit 2348 Metern der höchste Berg im Kanton Luzern. Eigentlich fühlt man sich schon am Gipfelkreuz des Mändli am Ziel, kann sich kaum aufraffen, weiterzulaufen – so schön ist die Aussicht auf die Berner Hochalpen.
Leider naht auch schon das Ende der Tour: Zischend wird einen die älteste Dampfzahnradbahn der Schweiz am nächsten Tag ins Tal bringen, so wie die Lokomotiven das seit 1892 machen. Doch vorher wird man noch eine Nacht auf dem Gipfel verbringen. Hier den Sonnenaufgang zu erleben: Auch das wäre sicher Millionen oder gar Milliarden wert, ist am Ende aber unbezahlbar schön.