Griechenland Tiefergelegter Glaube

Um dem Himmel näher zu kommen, muss man sich auf der griechischen Halbinsel Peloponnes in die Erde wagen.

 Die Doline von Didyma ist ein idealer Ort für Einkehr und Gebet. Einst vermuteten die alten Griechen hier den Eingang des Hades.

Die Doline von Didyma ist ein idealer Ort für Einkehr und Gebet. Einst vermuteten die alten Griechen hier den Eingang des Hades.

Foto: Thomas Schneider

Vom Erdboden verschluckt. Wie schön. Über schiefe Stufen eines unterirdischen Tunnels geht es abwärts, in das Innere eines Kraters. Dort angekommen wird die Welt außer-
halb dieser Grube mit einem Mal ziemlich vage. Umringt von senkrecht abfallenden Felswänden dringt kein Geräusch mehr herunter, nur aus der Tiefe des Kessels erklingt leises Vogelzwitschern und Blätterrauschen. Die Scheinwerferstrahlen der Nachmittagssonne lassen das Gestein in einem überirdisch schönen Lavarot erglühen, und Zeit sickert hier so langsam auf den Grund des Kraters wie Zucker in eine Tasse griechischen Kaffees. Alltag, Hektik und Lärm sind plötzlich nur noch ferne Gerüchte.

Doline lautet die geowissenschaftliche Bezeichnung für diese schüsselförmige Senke unweit des Dorfes Didyma, die irgendwann in grauer Vorzeit durch den Einsturz mehrerer Karsthöhlen entstanden ist. Die Griechen nennen sie einfach Mikri Spilia, kleine Höhle. 80 Meter tief ist sie und 120 Meter im Durchmesser – Maße, die gar nicht so gewaltig klingen, wie sie sich anfühlen, wenn man im Bauch der Doline gelandet ist. Gerahmt von den rotbraunen Rändern des Kraters ist der Himmel von hier unten aus gesehen eine ziemlich runde Sache und scheint so unwirklich nah, als läge er unter einem Vergrößerungsglas.

Bei dieser himmlischen Aussicht mussten griechische Gläubige zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass die Doline von Didyma ein idealer Ort für Einkehr und Gebet ist. Dagegen sprachen jedoch antike Mythen. Den Eingang des Hades haben die alten Griechen hier vermutet, und auch der Zyklop, der Odysseus’ Leben bedrohte, soll vorübergehend in der Doline gehaust haben.

 So sieht das Innere der kleinen Kirche Metamorfosis tou Sotiros an der Nordseite des Kraters aus.

So sieht das Innere der kleinen Kirche Metamorfosis tou Sotiros an der Nordseite des Kraters aus.

Foto: Thomas Schneider

In byzantinischer Zeit war es gängige Praxis, dass einige Mönche die Gemeinschaft des Klosters verließen, um in Askese ihren Frieden zu finden. Nur wenigen Mitbrüdern war es gestattet, diese Einsiedler zu besuchen und nach deren Tod kleine Kirchen im Inneren oder in der Nähe ihrer Höhlen zu errichten. So auch in der Doline von Didyma. Im 13. Jahrhundert bauten Mönche eine erste Kirche in den Krater. Agios Georgios, ein Gotteshäuschen von der Größe einer Gartenlaube. Der Felsen, an dem die Kirche klebt, wurde an dieser Stelle einfach weiß getüncht und als Rückwand in den Bau integriert. Unter einer vom Ruß der Kerzen tiefschwarz gefärbten Decke dämmern verwitterte Fresken und hölzerne Ikonen vor sich hin. Weil im Inneren von Agios Georgios nur Platz für eine Handvoll Menschen ist, wurden zudem einige Kirchenbänke davor aufgestellt. Wie das berühmte Damoklesschwert hängt ein mächtiger Kalksteinblock darüber. Kein Grund zur Sorge. Nur Frauen und Wassermelonen sind Glückssache, sagen die Griechen, alles andere liegt in Gottes Hand. Mag das Gestein auch noch so porös und bröckelig sein, Hauptsache der Glaube ist felsenfest.

Zum Beweis für ihr geballtes Gottvertrauen errichteten Mönche auf der Nordseite des Kraters noch eine zweite Kirche, Metamorfosis tou Sotiros, die sie direkt in den Fels gruben. Drinnen hat es sich der griechisch-orthodoxe Sinn fürs Praktische gemütlich gemacht. Tüten voller Putzlappen hängen neben Kerzenständern. Limonadenflaschen mit Lampenöl, Kehrbesen und Schachteln voller kleiner Weihrauchbrocken lagern in einer Ecke, und als käme Gott gelegentlich auf ein Tavli-Spiel und ein Gläschen Wein vorbei, stehen ein hölzerner Esstisch und Stühle bereit. Das ist die gute Stube des griechischen Glaubens. In einem Pappkarton wird der Kerzenvorrat aufbewahrt.

Generationen von Gläubigen haben hier schon Kerzen entfacht und ihre beiden Kirchlein im Krater geliebt und gepflegt, und das nicht nur an hohen Feiertagen, wenn sich die Gemeinde von Didyma in der Doline versammelt. Auch Touristen, die durch diese Ecke der Peloponnes reisen, finden früher oder später dorthin, selbst dann, wenn sie die Erwähnung der Kraterkirchen in ihren Reiseführern überlesen haben.

An einem übernatürlichen Magnetismus liegt das nicht, sondern daran, dass der riesige Krater im Berghang für niemanden zu übersehen ist, der sich auf den Weg ins beliebte Küstenstädtchen Ermioni macht. Allerdings handelt es sich bei dieser auffallenden Vertiefung um Megali Spilia, die große Höhle, die mit ihrem für Griechenland ungewöhnlich großen Durchmesser von 165 Metern die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich zieht. Erst beim Näherkommen entdecken sie dann in unmittelbarer Umgebung die zweite, versteckt liegende Doline samt ihrer Kirchen. Wer sie betritt, wird Teil einer jahrhundertealten Besucherbewegung, bestehend aus Gläubigen und Neugierigen, aus Staunenden und Stillesuchenden.

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