Auf dem Jakobsweg Stille und Spektakel in der Kathedrale

Santiago (RP). Zu den faszinierendsten Dingen in der Kathedrale von Santiago de Compostela gehört ein riesiges Weihrauchfass, das an einem 60 Meter langen Seil durch das Querschiff geschwenkt wird. Das Gefäß rast mit 70 Stundenkilometern durch die Luft -­ nicht immer unfallfrei.

Warum Menschen den Jakobsweg gehen
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Warum Menschen den Jakobsweg gehen

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Es gibt zwei spektakuläre Ereignisse in der Kathedrale von Santiago zu erleben: Das eine ist sehr still und bewegend, das andere ist von geradezu fröhlicher Unruhe. Fangen wir damit an: mit dem berühmte Botafumeiro, der durch das Querschiff der Kirche geschwenkt wird. Es handelt sich um ein 1,50 Meter hohes Weihrauchfass, das an einem 60 Meter langen Seil von der Decke hängt und nach dem Hochamt von acht Männern, den Tiraboleiros, in Bewegung gesetzt wird.

Erst denkt man: Nun ja, die werden das ein wenig hin- und herschwenken ­- bis das Fass in Fahrt kommt. Es schwingt bis knapp unter das Gewölbe; es hat dabei eine Geschwindigkeit von knapp 70 Stundenkilometern. Unwillkürlich hält man die Luft an und staunt mit offenem Mund.

Fass krachte durch das Fenster

Wenn dieses Fass in eine Wand kracht, muss es die Wucht und Wirkung einer Abrissbirne haben. Es gab auch schon Unfälle: 1499 schlug das Fass durch die Fenster des Südportals auf die Plaza de las Platerías. Auch aus den Jahren 1622, 1925 und 1937 sind Zwischenfälle überliefert, die aber glimpflich verliefen.

Erste Hinweise auf ein riesiges Weihrauchfass weisen ins 13. Jahrhundert zurück. Das Fass hatte neben der liturgischen Rolle offenbar auch eine medizinische Aufgabe: Es sollte den Gestank, den die Pilger mit in die Kirche brachten, bekämpfen. Dabei ging es wohl nicht nur um Fragen der Ästhetik. Viele Pilger waren krank, und man glaubte, dass üble Gerüche Krankheitsüberträger wären.

Das andere, spektakuläre, gleichwohl sehr stille Ereignis ist die Pilgermesse selbst. Diese Messen sind wirklich Pilgermessen: Die meisten der Besucher sind gerade erst angekommen. Die Gesichter sind gezeichnet von Schweiß, Schmerz, Erschöpfung, Staunen über die Pracht der Kathedrale, Tränen. Man sieht viele Menschen in tiefer Andacht. Die christliche Dimension des Pilgerns ist hier lebendig und stark.

Menschen aus aller Welt versammeln sich vor der Kathedrale

Etwas anderes fällt auch sofort auf: dass der Jakobsweg ein Weltpilgerweg ist; das Gemisch der Nationen ist vor allem auf dem Platz vor der Kathedrale zu spüren, wo Sprachen aus aller Welt zu hören sind. Das war schon im Mittelalter so. Im 1139 fertiggestellten "Liber Sancti Jacobi” (Buch vom heiligen Jakobus; auch Codex Calixtinus genannt, weil Papst Calixtus der Verfasser sein soll) wird beschrieben, wie die Pilger sich in der Kathedrale zu nationalen Gruppen sammelten.

Es heißt dort: "Mit übermäßiger Freude bewundert man die große Schar der Pilger, die beim ehrwürdigen Altar des heiligen Jakobus Nachtwache hält: Die Deutschen weilen auf der einen Seite, die Franken auf der anderen, die Italer schließlich auf der dritten; sie halten Kerzen in den Händen, so dass die ganze Kirche wie durch die Sonne an einem hellen Tag erstrahlt. Nur mit seinen Landsleuten vollzieht jeder die Nachtwache. Manche spielen Leier, Lyra, Pauke, Quer- und Blockflöte, Posaune, Harfe, Fiedel, britische oder gallische Rotta, manche singen, manche bedauern ihre Sünden, lesen Psalmen oder geben den Blinden Almosen. Man hört dort die verschiedensten Sprachen; Gespräche und Lieder der Deutschen, Engländer, Griechen und der anderen Stämme und Völker auf dem gesamten Erdkreis.”

Der gesamte Erdkreis: Das ist die ebenso stolze wie wohl zutreffende Einschätzung über die Bedeutung des Jakobsweges für die Christenheit im Mittelalter. Der Bedeutungsverlust des Weges setzt in der frühen Neuzeit ein und ist auch in den Pilgerberichten zu spüren. Der vom Niederrhein stammende Ritter Arnold von Harff (1471 - 1505) etwa war zwei Jahre lang (1496 - 1498) als Pilger in Europa und im Heiligen Land unterwegs.

In seinem Pilgertagebuch (unter dem Titel "Rom, Jerusalem, Santiago” zugänglich in einer fabelhaften, reich bebilderten neuen Ausgabe des Böhlau-Verlages) findet sich zu Santiago de Compostela nur eine halbe Seite. Deutlich zu spüren ist die Skepsis gegenüber den Reliquien.

"Compostela”, schreibt er, "ist ein kleines, schönes, gefälliges Städtchen in Galicien. Man sagt, dass der Leichnam des Apostels St. Jakobs des Älteren in dem Hochaltar sein oder liegen soll. Viele streiten das offen ab, da er zu Toulouse im Languedoc liegt.”

Arnold versuchte, die Geistlichen zu bestechen, auf dass sie ihm den heiligen Körper zeigen. Vergeblich: "Man gab mir zur Antwort, wer nicht wirklich glaube, dass der heilige Körper St. Jakobs des Älteren in dem Hochaltar liege, und daran zweifle, dass der Körper dort sein werde, der müsse von Stund an verrückt werden wie ein tollwütiger Hund.” Arnold kommentiert diesen Bescheid mit dem knappen Satz: "Damit hatte ich Auskunft genug.”

Arnolds Tagebuch gilt als Beleg für einen geistesgeschichtlichen Umbruch. Sein Bericht ist kein demütiges Protokoll einer Pilgerreise, sondern ein selbstbewusst vorgetragener Reisebericht eines klugen und wachen Beobachters; angefüllt mit Reisenotizen, die auch kulturgeschichtlicher oder landeskundlicher Natur sind. Arnold tritt als Renaissance-Mensch an, der die Welt in eigener Perspektive sieht und sich als "Dichter und Pilger” bezeichnet.

Pilgern als Himmelfahrtskommando

Allerdings wird bei ihm auch deutlich: Trotz Skepsis und Selbstbewusstsein glaubte er sehr wohl an den Sinn des Pilgerns; er, der 1496 mit 25 Jahren aus Köln aufbrach zu einer Fahrt, die man mit vorsichtigem und sehr wohl respektvoll gemeintem Augenzwinkern als Himmelfahrtskommando bezeichnen kann.

Die Gefahr zu sterben war groß; der Gedanke an den Himmel und der Glaube an Gott waren lebendig. Arnolds Schlussworte zur glücklichen Heimkehr lauten: "Dank und Lob sei Gott, dem allmächtigen Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, dass ich diese Pilgerfahrt in Gesundheit vollendet habe, wieder nach Köln kam auf St. Martins Abend, als man da schrieb nach Christi Geburt 1499 Jahr, als ich ausgezogen war und gelobt hatte, bei meiner Heimkehr die Drei Heiligen Könige wieder aufzusuchen, die uns allezeit vor dem Leid behüten mögen. Amen.”

Santiago ist heute eine Stadt voller Leben. Dazu tragen nicht nur die Pilger bei, sondern auch Studenten. Die Altstadt ist großartig, vor allem der Platz vor der Kathedrale lädt ein, dem Treiben zuzuschauen, so wie Arnold von Harff dort einst gestanden haben mag.

So viel hat sich gar nicht geändert, sieht man davon ab, dass eine Pilgerreise nicht mehr gefährlich ist. Die Reisenden sind wie Arnold von Harff beides: vielleicht Pilger auf der Suche nach Gott; ganz sicher aber Dichter, die ein Kapitel über sich selbst schreiben wollen. Beides gewährt eine Fülle, die selten ist auf Reisen.

Unsere Redakteure Jens Voss (Text) und Andreas Krebs (Fotos) waren auf dem Jakobsweg unterwegs. Von ihren Erlebnissen und Eindrücken haben sie in einer Serie berichtet. Die einzelnen Teile der Serie können Sie unten nachlesen.

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