Adventsserie (1) Lourdes - Ort der Wunder

Lourdes (RP). Sechs Millionen Pilger machen sich jedes Jahr auf den Weg in den südfranzösischen Marienwallfahrtsort Lourdes. Viele pilgern dorthin, weil sie auf plötzliche Erlösung von Krankheit und Leid hoffen. Tatsächlich gibt es dort Fälle unerklärbarer Heilung. Das eigentliche Wunder aber ist: in Lourdes wird Nächstenliebe Alltag.

Lourdes - Ort der Wunder (1)
11 Bilder

Lourdes - Ort der Wunder (1)

11 Bilder

Der Junge ist vielleicht zehn Jahre alt. Auf dem Foto kickt er mit dem Knie einen Fußball in die Luft, die Arme angewinkelt, die Hände verkrampft bis in die Fingerspitzen. Der ganze Körper ist Anspannung, kindlicher Ernst. Im Hintergrund sind Palmen zu sehen, ein Swimming-Pool, ein schönes Zuhause. Man könnte den Jungen beneiden. Doch irgendjemand hat sein Bild in die Grotte von Lourdes getragen, hat es unterhalb der Madonnenfigur an den Fels geklemmt und eine gehäkelte Rose daneben. Wahrscheinlich, weil das Kind auf dem Foto eine Kappe auf dem Kopf hat ­ und darunter keine Haare. Für diesen krebskranken Jungen soll ein Wunder geschehen.

Die Erwartungen an Maria sind hoch in Lourdes. Es gibt Gläubige, die zum Lob Mariens hierherkommen und zur eigenen Sammlung. Doch es gibt auch Pilger, die auf ein Wunder hoffen, ganz konkret, für sich oder jemand anderen, der ihnen nahesteht ­ selbst wenn sie ihn nur auf einem Foto mit an die Grotte nehmen können.

Für Gläubige ist diese raue, zerklüftete Felsnische von Lourdes der Ort, an dem Maria erschienen ist. An einem Donnerstag im Februar des Jahres 1858. Damals ging die arme Müllerstochter Bernadette Soubirous mit ihrer Schwester und einer Freundin Holz sammeln. Die Kleine wurde von Asthma geplagt, konnte den anderen nicht tiefer ins Gestrüpp folgen, blieb allein an der Grotte zurück. Dort sah sie dann in gleißendem Licht eine weiße Dame, die so schön und anziehend war, dass das Mädchen in den folgenden Tagen immer wieder zur Grotte zurückkehrte.

18 Mal hat Bernadette die Dame gesehen, hat mit ihr gebetet, hat auf ihr Geheiß im dreckigen Erdreich gewühlt und eine Quelle freigelegt, die heute noch sprudelt. Schon damals folgten ihr viele Menschen an die düstere Höhle und tranken aus der neuen Quelle. Und schon aus diesen ersten Tagen gibt es Wunderberichte. Von Catherine Latapie etwa, deren gelähmte Hand geheilt wurde oder von Louis Bouriette, der halb erblindet plötzlich wieder sehen konnte.

Seither ist Lourdes ein Ort der Hoffnung. Sechs Millionen Pilger kommen jedes Jahr in das südfranzösische Städtchen am Rande der Pyrenäen. Die meisten davon Franzosen, Italiener, Spanier. Deutschland lag mit 40\x0e000 angemeldeten Pilgern im vergangenen Jahr an sechster Stelle. Die Menschen wohnen in Pilgerhotels, die sich in einem Gürtel rund um den so genannten Heiligen Bezirk angesiedelt haben. Dieser sakrale Teil von Lourdes mit fünf Kirchen und der Grotte ist durch einen Zaun vom weltlichen Teil der Stadt getrennt. Auf diesem Gelände gibt es keine Devotionaliengeschäfte, keine Restaurants, nur kleine Häuschen, an denen man Kerzen haben kann ­ gegen eine Spende.

Im Heiligen Bezirk hat auch Doktor Sandro de Franciscis sein Sprechzimmer. Der italienische Arzt ist Leiter des Medizinischen Büros von Lourdes, jener offiziellen Stelle, bei der sich Menschen melden können, die glauben, dass an ihnen ein Wunder geschehen ist. Die Kriterien zur Anerkennung sind streng: Die Heilung einer schweren organischen Krankheit muss plötzlich, vollständig, dauerhaft erfolgen und darf vorher nicht behandelt worden sein. Vor allem dieses Kriterium ist heute kaum noch zu erfüllen. Darum hat die Kirche 2005 zum letzten Mal ein Wunder anerkannt, der Fall stammt aus dem Jahr 1952.

Damals kam Anna Santaniello aus dem italienischen Salerno nach Lourdes. 40 Jahre war sie alt und litt an akutem Gelenkrheuma, das schon ihr Herz angegriffen hatte. So groß war ihre Atemnot, dass ihr das Sprechen schwer fiel, gehen konnte sie gar nicht mehr. Also brachte man sie auf einer Bahre in die Bäder von Lourdes. Dort können Pilger mit dem ganzen Körper in das Quellwasser aus der Grotte eintauchen. Das Bad verließ Anna Santaniello bereits ohne Bahre, am selben Abend ging sie zur Lichterprozession, die Atemnot war verschwunden.

So ist es in den Akten des medizinischen Büros vermerkt. 7000 solcher Fälle sind dort gesammelt in einem schlichten Metallschrank. Doch nur 67 dieser spontanen Heilungen hat die Kirche offiziell als Wunder anerkannt. Diese Zurückhaltung ist dem Lourdes-Arzt Franciscis wichtig. Schließlich ist er Wissenschaftler. "Wir sind nicht hier, um Wunder zu fabrizieren”, sagt er, "sondern um Heilungen zu dokumentieren, die unerklärlich sind.” Die Deutung dieser Fälle überlässt er der Kirche. "Für Wunder sind die Bischöfe zuständig”, sagt er, "wir kümmern uns nur um die medizinischen Fakten.” Dass die Kirche für diese Aufgabe auf katholische Ärzte zurückgreift, findet er nicht fragwürdig. Franciscis hat sofort die Gegenfrage parat: "Wieso sollten ausgerechnet gläubige Ärzte ausgeschlossen sein?” Und wer weiter bohrt, hört irgendwann: "Zweifeln Sie an meiner Kompetenz?”

Doch eigentlich ist man auch gar nicht richtig im Büro von Sandro de Franciscis, wenn man etwas über die Wunder von Lourdes erfahren will. Besser geht man hinaus auf die Esplanade vor den Kirchen des Heiligen Bezirks und reiht sich ein in die Schar der Pilger, die sich dort jeden Tag zu Prozessionen versammeln, nachmittags zur Sakramentsprozession, am Abend zur Lichterprozession.

Die Spitze dieser Pilgerzüge bilden die Kranken. Helfer schieben sie auf Tragen oder in Rollstühlen vorneweg. Und auch im Gottesdienst bilden sie die ersten Reihen. Pfleger umschwirren sie die ganze Zeit, legen ihnen Decken um die Schultern, bringen ihnen Wasser in kleinen Bechern, streicheln ihre Hände.

Wer diese emsige Fürsorge erlebt, dem wird allmählich klar, dass es in Lourdes gar nicht um die spektakulären Wunder geht, um den Lahmen, der wieder geht, um den Blinden, der wieder sieht. Es geht darum, wie liebevoll man dort mit Kranken umgeht, wie man ein Klima schafft, in dem sie sich geachtet und willkommen fühlen, wie Mitmenschlichkeit dort Alltag ist. In Lourdes hat der Glaube wenig Selbstbezügliches; es geht nicht um Selbsterkenntnis, Selbstfindung, Selbstbestätigung. Es geht um den Anderen, um die praktischen Konsequenzen des Glaubens, um das Wunder der Nächstenliebe.

Wer also auf der Suche ist, nach der außergewöhnlichen Kraft von Lourdes, der muss morgens um fünf in eines der Pilgerkrankenhäuser gehen. Freiwillige tun dort ihren Dienst, ohne Lohn, ohne Schichtende. Pfleger wie Thomas Laubersheimer, 46, aus Minden, der sagt, die intensive Zeit mit den Kranken in Lourdes gebe ihm Kraft für ein ganzes Jahr Stress im mobilen Pflegedienst daheim. Oder Ärzte wie Judith Schmitt, 41, aus Viernheim, die sagt, in Lourdes könne ein Arzt mit einfachsten Mitteln helfen: mit seinen Händen, mit Gesprächen. In Lourdes könne man spüren, was Arztsein eigentlich heißt.

Die Wunder von Lourdes ereignen sich in unscheinbaren Szenen: Da fährt eine Frau in Schwesterntracht einen Mann im Rollstuhl zur Statue der Gekrönten Madonna. Der Mann ist vielleicht fünfzig, teuer gekleidet, ein Schlaganfall hat die Hälfte seines Körpers gelähmt. Auf seinem Schoß liegt eine Rose. Am Fuß der Madonnenfigur will er die Blume an ein Gitter stecken. Die Pflegerin legt die Arme des Mannes um ihren Hals, zieht ihn hoch, hilft ihm, die Rose zu befestigen. Als er sich in den Rollstuhl zurücksinken lässt, küsst er die Pflegerin auf die Stirn, spontan, herzhaft, glücklich. Und sie ist es, die zu weinen anfängt.

Die Wunder von Lourdes schlummern auch in Erzählungen, die man dort hört. Von der Tochter, die mit 14 als Freiwillige nach Lourdes kam, einen Mann im Rollstuhl versorgte und Kontakt zu ihm behielt. 20 Jahre schrieben sie sich Briefe. Dann starb der Mann, die Betreuerin von einst wusste nicht warum, aber sie fühlte sich gerufen, zu seiner Beerdigung zu fahren ­ und stand dann fast allein an seinem Grab.

Der Geist, der aus solchen Geschichten spricht, ist das eigentlich Bemerkenswerte in Lourdes. Tatsächlich ist dieser Wallfahrtsort keine Fabrik für Wunder ­ das Wunder ist Lourdes selbst.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort