Ein Streifzug durch die Hauptstadt London: Das Sterben der Melone

London (RP). Es gibt Marks & Spencer, und es gibt Karl Marx und Herbert Spencer. Marks and Sparks, wie sie hier sagen, ist eine traditionsbeladene Kaufhauskette, die gerade gegen heftige Turbulenzen ankämpft. Wer Karl Marx war, braucht man nicht zu erklären, Herbert Spencer ging als bedeutendster englischer Philosoph des 19. Jahrhunderts in die Lexika ein.

Impressionen aus London
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Foto: AP

Letztere liegen beide in Highgate begraben, im hügeligen Norden Londons, in so enger Nachbarschaft, dass man direkt vor Spencers Urne landet, wenn man von Marxens Monumentalbronze fünf Schritte zurück auf den Friedhofsweg läuft. Fast wie Zwillinge. Die freche Londoner Großstadtschnauze hat aus dem Philosophenpaar, wie sollte es anders sein, Marks & Sparks gemacht.

Highgate, was für eine Überraschung! Da spaziert man, das "Kapital" im Kopf, durchs raschelnde Herbstlaub des Waterlow-Parks aufs Friedhofstor zu, und steht vorJean Pateman. Jean A. Pateman MBE, Member of the British Empire. Eine feine Dame, sehr fein sogar, ein Hauch von einem Händedruck, vierfach verschlungene Perlenkette. Dass sie Marx nicht sonderlich mag, stellt sie gleich klar. "Mir ist die unternehmerische Kultur lieber als eine Kultur, die den Menschen vom Staat abhängig macht", sagt Jean Pateman. Mit ihrem Oxford-Englisch, melodisch, voller Selbstsicherheit, klingt sie wie Maggie Thatcher.

Insgeheim wird sie froh sein über ihren berühmtesten Toten, denn zu Karl Marx gelangt nur, wer einen Obolus entrichtet. Zwei Pfund Sterling, nicht ganz billig, doch so ein Friedhof will unterhalten sein. Andererseits, und das ist wohl wahre Dialektik, haben es die Marx-Pilger im Grunde der feinen Lady Pateman zu verdanken, dass sie noch rote Nelken an einem intakten Grabstein niederlegen können. 1975 ging sie im Kreise erboster Anwohner auf die Straße, eine Petition in den Händen: Highgate müsse öffentlich zugänglich bleiben! Ein Verein entstand, um das vom Verfall bedrohte Gelände zu pflegen, fortan kümmerten sich die "Friends of Highgate Cemetery" um die 52 000 Grabstätten. Seitdem schlägt sich Jean Pateman, erst Sekretärin, dann Vorsitzende der "Friends", mit wucherndem Efeu, wegrutschender Erde und einer wachsenden Zahl schlauer Stadtfüchse herum.

Wer Marx heute noch besucht? Die Antwort, wie aus der Pistole geschossen: "Na, die Chinesen". Zum Beweis kramt die Dame nach dem Gästebuch, darin wimmelt es nur so von chinesischen Schriftzeichen. Russen ("Njet", witzelt sie) kämen so gut wie gar keine mehr, Deutsche schon noch ("viele Studenten"), unter den Europäern lägen die Deutschen ganz vorn.

Ortswechsel. St. James's Street, die Nummer sechs, ein Geschäft, über dem Lock & Co. steht, der Hutmacher James Lock. Die Ladentür knarrt ein wenig, was kein Wunder ist, hängt sie doch schon seit 1764 in den Angeln. "Welcome, Sir", ruft Patrick Lamb. Von seinem Hals baumelt ein Maßband herab, grün, weiß und orange, die Farben Irlands. Lamb stammt aus Dublin, er bittet im Hinterzimmer zum Tee, um die Kulturgeschichte des Gentleman zu erklären. Insbesondere jenes Kapitel, das von den Hüten der Gentlemen handelt: "Wussten Sie, dass Charles de Gaulle bei uns einen Bowler erstand?"

Lock & Co., ein Laden wie eine Filmkulisse. Weiße Hutschachteln die Wände hoch gestapelt, auf Regalen und Ständern seidig schimmernde Zylinder, helle Panamas und Namibias, die braunen Trilbys der Pferdesportfreunde, weichkrempige Fedoras. Nicht nur de Gaulle kaufte hier eine Melone, auch Oscar Wilde. 1894 war das, Wilde vergaß zu bezahlen, 106 Jahre vergingen, dann schickte ein Verehrer des Dichters einen verspäteten Scheck.

Aber wie ist das nun mit der Melone? Wann, wie und warum verschwand sie aus dem Stadtbild? In vergilbten Bildbänden sieht man sie noch, eine ganze Armee von Bowlerträgern, wie sie früh über die London Bridge in die Büros der City marschiert. So lange ist das nun auch wieder nicht her, manche Aufnahmen stammen aus den späten fünfziger Jahren. Heute dagegen! Ewig kann man suchen, fündig wird man noch in Ascot, auf der Galopprennbahn der High Society, wo bowlergekrönte Herren wie die Schießhunde aufpassen, dass sich ja keine Lady der Loge der Königin ohne angemessenen Kopfputz nähert. Aber sonst? Fehlanzeige!

"Wir sagen nicht Bowler, sondern Coke", fängt Patrick Lamb seine Geschichtslektion an. Es begann mit einem gewissen William Coke, dem Earl of Leicester, einem Gutsherrn aus Holkham in Norfolk. Der wollte nicht mehr mit ansehen, wie seinen Wildhütern immer die Hüte vom Kopf gefegt wurden, wenn sie durchs Unterholz pirschten. Innovativ veranlagt, beauftragte der Graf 1850 die Gebrüder Bowler, Thomas und William, Abhilfe zu schaffen. Klein und stabil sollte der neue Hut sein und fest am Kopf anliegen. Um die Festigkeit des Endprodukts zu testen, Hasenfilz, mit Schellack gehärtet, sprang der Earl mit voller Wucht auf den Prototyp, der Rest ist Geschichte.

Zwischen 1920 und 1960, in etwa, wurde der Coke alias Bowler zum Statussymbol der Mittelklasse - die höheren Chargen trugen Zylinder. Und wieso lief er aus? "JFK", sagt Lamb nur. "John F. Kennedy trug keinen Hut. Auf einmal wollten alle wie Kennedy sein."

Heute wird der Bowler fast nur noch von amerikanischen Touristen gekauft, denn die mögen England am liebsten so altmodisch, wie es nur noch im Film ist. Russen sind aufstrebende Kunden, wobei sie Fedoras bevorzugen. Lambs große Hoffnung ruht - Highgate lässt grüßen - auf den Chinesen. Vielleicht wiederholt sich in Peking und Schanghai alles, der Hang zum Statussymbol, der Bowler als Teil der Berufsuniform, "wer weiß, alles ist möglich". In London sowieso.

(Rheinische Post)
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