Adventsserie (2) Die Rituale von Lourdes

Düsseldorf (RP). 1858 erschien Bernadette Soubirous in der Grotte von Lourdes eine weiße Dame, die sich als die "Unbefleckte Empfängnis” zu erkennen gab. Seither ist die Stadt in den Pyrenäen ein bedeutender Marienwallfahrtsort mit eigenen Ritualen ­- der allabendlichen Lichterprozession zum Beispiel.

Die Rituale von Lourdes (2)
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Die Stunde der Kerzen ist gekommen. Es ist kurz vor 21 Uhr. Die Dämmerung hat sich ins Tal von Lourdes gesenkt, die Menschen eilen in den Bezirk der Pilgerkirchen am Rande der Stadt. Sie haben Kerzen in der Hand, schlanke, weiße Wachsstengel mit aufgesteckten Papierrosetten, die später die Flamme beschützen wie ein leuchtender Blütenkelch. Leichte Aufregung liegt in der Luft, gedämpftes Reden, schnelle Schritte, gediegene Eile wie auf einem Opernvorplatz.

Auf einem Stück Weg gleich neben der zentralen Rosenkranzbasilika kommen die Menschen zusammen, warten auf die Kranken. Denn die bilden die Spitze dieses abendlichen Pilgerzugs. Menschen wie Ralf Hamers, 48, aus Lennestadt, der vor ein paar Jahren plötzlich nicht mehr gerade gehen konnte. "Hab geschlenkert, als wäre ich betrunken”, erzählt er. Die Diagnose lautete Multiple Sklerose. Da arbeitete Hamers noch als Elektromeister im Familienbetrieb. Jetzt sitzt er im Rollstuhl, wird daheim von den Eltern gepflegt. "Ich hatte eigentlich Angst zu verreisen”, sagt Hamers, "aber unser Pastor hat nicht locker gelassen, hat gesagt, in Lourdes würde man sich gut um mich kümmern. Und jetzt bin ich froh, dass ich hier bin.”

Für jeden Kranken gibt es in Lourdes Helfer, die zum Beispiel bei den Prozessionen die Chaisen lenken. Das sind zierliche Rollstühle mit Verdeck, die an einer Lenkstange gezogen werden wie kleine Kutschen. Vornehm sieht das aus, würdevoll.

Auch die Madonna an der Spitze der Prozession ist eine Hilfsbedürftige. Auf einer Trage mit Baldachin wird die lebensgroße Figur getragen, leicht schwankend, verletzlich und doch majestätisch, wie sie so vorneweg schwebt mit weißen Lilien zu ihren Füßen, elektrisch illuminiert. "Pater noster, qui es in caelis...” Mit dem Vaterunser hebt das Rosenkranzgebet an, die Menschen stimmen ein, die Lichterprozession setzt sich in Gang.

"Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade”, wieder und wieder sprechen die Pilger das Gebet, vertrauen sich einem Text an, den sie formulieren können, ohne zu denken. Das ist das Geheimnis: Zu Hause sein in einem Text, sich ganz hineinversenken können oder sich von ihm davontragen lassen. Dazu passt die Langsamkeit des Gehens. Dieser Weg führt nur äußerlich voran. Vor allem führt er nach innen. Wenn man bereit ist.

Tägliche Prozessionen

Es gibt Pilgerorte, die das Ziel einer beschwerlichen Reise sind. Diese Orte nehmen Erschöpfte auf, Menschen, die unterwegs über das nachdenken wollten, was sie aufbrechen ließ. In Lourdes beginnt der Weg am Ziel. Die Tage sind bestimmt von Prozessionen, die Eucharistische am Nachmittag, die Lichterprozession am Abend. Die Menschen gehen, singen, beten, tragen ihre Kerzen durch die Nacht und fühlen sich verbunden durch das gemeinsame Tun, durch das so oft geübte Ritual.

Sechs Millionen Pilger kommen jedes Jahr. Die Prozessionen folgen der Spur der Heiligen Bernadette. 18 Mal hat das arme Müllerskind aus Lourdes 1858 in einer Grotte am Bergfluss Gave eine Dame gesehen, so hell und schön und liebenswert, dass Bernadette immer wieder zu der Felsenhöhle lief. Nach der 13. Erscheinung berichtet sie, die Dame habe ihr eine Botschaft aufgetragen: "Sagen Sie den Priestern, dass man in Prozessionen hierher kommen und eine Kapelle bauen soll.” Das ist der Grundstein für den Wallfahrtsort Lourdes. Rund um die Grotte sind fünf Kirchen, zahlreiche Kapellen entstanden. Die größte Kirche, die unterirdische Basilika St. Pius X., fasst 20.000 Menschen.

Lourdes ist ein Ort der Wiederholung. Das beginnt beim Rosenkranzgebet, das die Ave Marias reiht wie die Perlen an der Gebetsschnur. Das endet beim immer gleichen Ablauf der Tage mit den Gottesdiensten, den Prozessionen. Nichts für Individualisten. Und doch praktizieren an diesem Ort Menschen sehr individuell ihren Glauben, sind fromm, wie es ihnen das Herz eingibt ­- und nationale Traditionen.

Man kann diese Frömmigkeit beobachten. In der Grotte etwa, wenn die alte Frau am Felsen vorüberschreitet, der schon ganz glatt und speckig ist von all den Berührungen. Plötzlich holt sie eine kleine Marienfigur aus der Manteltasche, sorgsam eingewickelt in weißes Papier. Die hält sie nun an den Felsen. Ganz dicht führt sie die bemalte Miniatur-Maria am Gestein entlang, als könne sie die Figur aufladen mit der Wirkung, die der Fels auf sie hat. Andere führen Rosenkränze am Stein der Grotte entlang oder hängen die Gebetsschnüre an einen Vorsprung, genau unterhalb der Nische, in der Bernadette die weiße Dame sah.

Und wenn das Gedränge dort nicht zu groß ist, kann man Gläubige beobachten, die sich an den Fels lehnen, die Stirn gegen die kalte Höhlenwand pressen, die Arme um den Kopf legen wie ein schützendes Dach. Als könnten sie so den Blicken der anderen entkommen. Man sieht in Lourdes Gebetshaltungen großer Innigkeit. Und auch das: Zwei ältere Damen, die Babykleidung an den Felsen drücken, Strampler, Hemdchen, alles ganz in weiß. Und als sie die Grotte verlassen, stopfen sie die Kleidung in Gefrierbeutel mit Fotos ihrer Enkel. Segen in Tüten.

"So, jetzt nach unten schauen und auf drei zu mir!” Auch das ist ein Ritual von Lourdes. Jeden Vormittag lassen sich Pilgergruppen auf dem Platz vor der Rosenkranzbasilika fotografieren. Im Sonnenlicht. Darum hat sich Benedict Diaz, 46, den Trick mit dem Aufschauen auf Kommando einfallen lassen. Blinzelschutz. In sechs Sprachen hat er das Kommando parat. "Jede Gruppe ist anders”, sagt er, aber im Winter arbeitet er doch lieber in den Bergen. In der Einsamkeit. Noch aber ist Saison, und in einer der Geschäftsstraßen von Lourdes, gleich hinter dem Kirchenbezirk, hängt Diaz seine Bilder aus zum Bestellen. Vier Euro für die Gewissheit, dass man da gewesen ist.

Und dann gibt es Traditionen, die die Pilger selbst begründen. Weil Pilgern in Lourdes meist Gruppensache ist und Rituale nun mal auch gut sind für das "Wir”-Gefühl. Der Lourdesverein Westfalen etwa bestellt jedes Jahr hunderte Rosen bei einem Händler im Ort. Während des Abschlussgottesdienstes tragen die Pilger die blutroten Blumen vor den Altar, stecken sie zu prächtigen Gebinden und tragen sie in einer eigenen Prozession zur Grotte. Jeder hat teil an dieser Zeremonie. Ralf Hamers etwa darf eines der Gestecke in seinem Rollstuhl auf den Schoß nehmen. Obwohl ihm dabei Wasser über die Hose schwappt, schaut er glücklich hinter den Blumen hervor. Und noch am nächsten Tag erzählen sich die anderen aus dem Verein, wie prächtig sie wieder waren, die Gestecke der Westfalen.

Bund der Frommen

Für deutsche Pilger aus schrumpfenden Gemeinden ist Lourdes ein Ort der gläubigen Selbstvergewisserung. Ein Ort, in dem keine Form der Frömmigkeit Rechtfertigung verlangt. Nur in Rom sieht man wohl noch so viele Priester in Soutanen. "Endlich ist man hier mal unter vielen Gleichgesinnten.” Man hört diesen Satz oft.

Jonas Kretschmer, 14, formuliert es so: "Ich find es super, hier im Gottesdienst zu dienen, da gibt es mal mehr Priester als Messdiener.” Sich nicht verteidigen zu müssen, für viele Gläubige ist das eine Wohltat. Lourdes ist kein Ort der Diskussion.

Aber ein Ort der Wege. Der schönste vielleicht führt hinauf in die Berge, die den Bezirk mit den Pilgerkirchen umgeben. Es ist der alte Kreuzweg von Lourdes. Zwar sind die überlebensgroßen, bronzegestrichenen Figuren an den Stationen nicht jedermanns Geschmack. Realismus kann ablenken von der Wahrheit. Doch der Weg führt den Pilger hinaus aus dem überfüllten Tal mit der Grotte. Unter Bäumen, den Blick in die Ferne gerichtet, kann er auf diesem Weg Distanz finden zum Getriebe da unten oder zu sich selbst.

Manchmal spürt man die Wirkung von Orten erst, wenn man sie verlässt. Von Lourdes jedenfalls sagen erfahrene Pilger, dass es einen erst daheim so richtig packt, wenn man eine Kerze anzündet, das Wachs riecht und sie wieder vor Augen hat: die tausenden Flammen aus der Lichterprozession. Manche sagen es auch so: Das wahre Pilgern beginnt nach der Pilgerfahrt.

(RP)
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