Eine Reise durch Frankreich Die Provinz Picardie naturnah erleben

Paris · Baumhütten, Planwagen, Seehunde: Die Picardie, eine historische Provinz im Norden Frankreichs zwischen Paris und der belgischen Grenze, lockt mit Natur und Abenteuern. Eine gute Abwechslung zum Großstadtleben, mit märchenhaften Geschichten.

Picardie - Eine Reise durch Frankreich
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Foto: dpa, CRT Picardie

Nicht nur um jeden Turm ranken sich die Geschichten. Mindestens zehn sind es bei der Schlossburg Pierrefonds, rechnet man die Ziertürmchen innerhalb der dicken Mauer hinzu. Viele sind wahr.

Eine märchenhafte Reise durch Frankreich

Die des jungen D'Artagnan, der Kardinal Mazarin, den mächtigen Berater des Sonnenkönigs Ludwig XIV., auf das Schloss entführte, stammt allerdings aus der Feder von Alexandre Dumas.

In seinem Roman "Die drei Musketiere" kam der junge Draufgänger D'Artagnan mit seinem Pferd über Nanteuil-le-Haudouin und Crépy nach Pierrefonds. Heute führt die Autobahn A1 in knapp einer Stunde von Paris nach Compiègne, wo nach rund zehn Kilometern Landstraße die Zinnen des Schlosses auftauchen, die unwirklich und dramatisch in den Himmel ragen.

Schloss Pierrefonds ist Ausgangspunkt zu einer Reise durch Frankreichs unbekannte Picardie und gehört zu den schönsten Schlössern der Region. Stolz blickt es aus einem Blätterdach aus 14 000 Hektar Eichen und Buchen hervor, so als wäre es sich seines Rufs und seiner bewegten Vergangenheit bewusst, als es noch zum Herzogtum Valois gehörte und durch Truppen von Kardinal Richelieu belagert und eingenommen wurde.

Nicht alle Mauern stammen aus dem 12. Jahrhundert. 1850 hatte sich Louis-Napoléon Bonaparte in die Ruinen verliebt und ließ das durch Kriege und den Zahn der Zeit in Mitleidenschaft gezogene Schloss wieder aufbauen.

Nicht ganz wie im Mittelalter. Der Kaiser der Franzosen hatte für seine zukünftige Privatresidenz ein Vorbild: Neuschwanstein, das Märchenschloss im Allgäu.

Schloss Pierrefonds als Drehort für "Merlin"

Napoleon hat nie in seiner Traumresidenz gelebt. Bevor er in eines der 132 Zimmer einziehen konnte, wurde er gestürzt. Das denkmalgeschützte Schloss steht heute leer und lockt neben Touristen ganz besondere Besucher an.

König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Gespenster sind es nicht. Pierrefonds dient mit seinen Wehrerkern, Spitzdächern und Wendeltreppen dem britischen Fernsehsender BBC als Drehort seiner Serie "Merlin".

Auch ohne Merlins Zauberstab verspricht die weitere Reise spannend zu werden, denn übernachtet wird in Baumhütten, nur knapp acht Kilometer weiter im Wald versteckt.

Allein der Weg dorthin ist ein Abenteuer. Von Pierrefonds in Richtung Vieux Moulin auf der D547 und dann irgendwann rechts in einen Waldweg ab. Nur wo? Noch vor dem Ortseingang, sagt die Stimme am anderen Ende. Das war der letzte Anruf vor ein paar Tagen. Handyempfang gibt es hier nicht.

"Bisher ist noch niemand im Wald verschwunden", empfängt uns Agathe Vuillemenot. Die 47-Jährige hat ihr Baumnest, "Nid dans l'arbre", vor rund vier Jahren zusammen mit Christophe, ihrem einstigen Klassenkameraden, eröffnet.

Wohnen im Baum(haus)

Mittlerweile besteht ihr Bettenpark im Grünen aus elf Hütten. Dabei findet in 5 bis 8 Metern Höhe jeder sein Glück: Auf Verliebte wartet das "Ti amo", pro Nacht 170 Euro einschließlich einer Flasche Champagner; auf Familien das "Ensemble, c'est tout", eine Baumsuite aus zwei Häusern mit gemeinsamer Frühstücksterrasse.

Die Idylle ist über eine einziehbare Treppe oder eine Seilbrücke zu erreichen. "Sportlich und schwindelfrei sollte man dabei schon sein", warnte Agathe, bevor sie uns Hüftgurt, Karabinerhaken und Stirnlampe in die Hand drückt - die Grundausstattung für die Übernachtung in "Lucie de la Follie" und "Hissé Haut".

Über den Seilzug haben wir das Gepäck nach oben gezogen. Nach Merlins Zauberschloss und einer kurzen Irrfahrt durch das Unterholz ist es Zeit für ein lokales Dinner. In den Wipfeln bleibt die Küche kalt. Es gibt Pastete und Blutwurst von Maurice Bigot, einem der besten Metzger der Region.

Der mehrfach ausgezeichnete Meister hat sich vor mehr als 40 Jahren in Pierrefonds auf dem Platz Hôtel-de-Ville niedergelassen. Sein Ruf ist weit über die Grenzen der Region bekannt. "Ich habe viele Pariser Kunden, die den Weg hierher nicht scheuen", sagt der Feinschmecker stolz. Seine Spezialität: Gänseleberpaste und "boudin rouge", eine nach Sandelholz riechende Blutwurst.

Grüne Idylle abseits vom Großstadtleben

Ruhe in den Gipfeln? Vor dem Lärm der Zivilisation schon. Doch mehr als sieben Meter über dem Boden tobt das Leben. Überall knarrt und stöhnt es im Gebälk, Eicheln fallen auf das Holzdach, Unterholz knackt. Waren das nicht Schritte vor der Tür?

Als eingefleischter Stadtmensch und der Natur entfremdet beginnt man kurz vor Mitternacht an die Stunde der Geister zu glauben - bis das sanfte Rauschen in den Blättern einen in den Schlaf wiegt.

Das Aufwachen ist herrlich. Noch stecken Wald und Feld im Morgendunst, doch bereits eine halbe Stunde später blinzelt die Sonne am Horizont hervor. Mit Blick auf Hüftgurt und Karabinerhaken fällt die Entscheidung gegen eine Dusche in den Sanitärräumen nicht schwer.

Stattdessen gibt es eine Katzenwäsche aus der 10-Liter-Wasserflasche.
Um 8.00 Uhr wird das Frühstück am Seil hochgezogen. In dem Korb, der am Ende baumelt: Milchkaffee, Orangensaft, Marmelade, Baguette und Croissants.

Mittelalterliches Feeling in Laon

Wir brechen nach Laon auf, der trutzigen mittelalterlichen Stadt, von der bereits Victor Hugo behauptete: "In Laon ist alles schön, die Kirchen, die Häuser, die Umgebung, alles", wie er in einem Brief an seine Frau Adèle schrieb. Die historische Altstadt liegt auf einem Tafelberg und wird von ihrer Kathedrale dominiert, eines der Hauptwerke der Gotik in Frankreich.

Laudunum, wie Laon unter Karl dem Kahlen hieß, ist auf ihrem 100 Meter hohen Kalksteinfelsen schon von weitem zu sehen. Wer über das Kopfsteinpflaster und durch die schmalen Gassen und Bogengänge schlendert, kann die Begeisterung Hugos über die Stadt teilen.

Die begehbare Stadtmauer, die ihre prächtige Vergangenheit schützt, kann am besten von der Vogelperspektive aus bewundert werden: aus 60 Höhenmetern und nach 209 Turmstufen der Kathedrale - oder in einer der einmotorigen Robin DR400-160 des Aéroclub de Laon.

Der Pilot flößt Vertrauen ein: offener Blick, warmes Lächeln, breite Schultern. "Manchmal kann es etwas holprig werden. Doch das vergisst man schnell". Mehr braucht Arnaud auch nicht zu sagen. In der Luft vergisst man den Druck im Magen und das Herzklopfen schnell.

Die Seele baumeln lassen

Unter uns Laon mit der seiner Altstadt, vor uns der Wald von Saint-Gobain und der Chemin des Dames, der Damenweg. Der Name geht auf eine alte Tradition zurück.

Während die an den Jagdgesellschaften teilnehmenden Männer in den Tälern und an den Hängen jagten, gingen die Frauen auf einem auf dem Höhenzug verlaufenden Weg zum Schloss zurück.

Damenweg, Ochsentürme, Katakomben: Bei Kerzenlicht in einem der romantischen und gemütlichen Planwagen von Nicole und François Varlet hängt jeder seinen Gedanken nach.

Das Rauschen des nur wenige Meter weit entfernten Omignon ist zu hören. Wir verbringen die Nacht in einem Naturgebiet bei Vermand, knapp 50 Kilometer von Laon entfernt.

Baie de la Somme

Unser nächstes Ziel ist die Baie de la Somme, die 2001 zur Lagune von Venedig in die Weltliga der schönsten Buchten aufgerückt ist. Am Rand des Ärmelkanals, nur eine Stunde von der Pariser Großstadthektik entfernt, glaubt man sich im Norden Schwedens - wären da nicht die Pirogen, die schmalen, langen Boote aus Polynesien.

Schnell und grazil bewegen sie sich zwischen den Sandbänken und den Meeresvögeln hindurch. "Sie sind ideal für dieses flache Gewässer", erklärt Yann Joly vom Kajakclub in Saint-Valery-sur-Somme, dem malerischen Fischerdorf, das schon im 19. Jahrhundert bevorzugter Erholungsort der Pariser war.

Die Somme-Bucht kennt starke Gezeiten. Bei Ebbe kann man bis nach Le Crotoy spazieren, das zwölf Kilometer weiter auf der gegenüberliegenden Seite liegt.

Doch noch etwas anderes macht die Bucht, in der die Somme in den Atlantik mündet, so besonders: Süß- und Salzwasser treffen aufeinander und lassen einen einzigartigen Lebensraum entstehen.

Tierisches Paradies

"Hier gibt es mehr als 300 Vogelarten", schwärmt Yann und zeigt auf einen Kormoran. Langsam gleiten wir tiefer in die Bucht. Lachmöwen ziehen vorüber und einige der berühmten Salzwiesenschafe sind zu sehen.

Sie sind nicht rechtzeitig mit der Herde zurückgekehrt und stehen verloren auf ihren kleinen Salzwieseninseln. Mindestens 100 Tage weiden sie in der Bucht, erst dann hat ihr Fleisch den besonders zarten und würzigen Geschmack, den ihr Ruf ausmacht.

Von den Seehunden, die hier seit Mitte der 1980er Jahre wieder leben, haben wir heute keinen gesehen. Normalerweise schwimmen sie bei Flut bis in den Flusslauf der Somme.

In dem Vogelparadies Parc du Marquenterre in der Bucht der Somme geht unsere Reise zu Ende, mit Ferngläsern und in einem der Beobachtungsposten. Ist das nicht ein Weißstorch? "Die kommen erst wieder im Frühjahr", klärt Vogelkundler Philippe Carruette auf. Ein Grund mehr, dann in die Picardie zurückzukehren.

(dpa)
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