Urlaub am Nordpol Die ungewöhnlichste aller Kreuzfahrten

Nordpol · Ein französisches Luxusschiff schippert seine Passagiere buchstäblich bis an den Nordpol. Die Reise in die Arktis strotzt vor einmaligen Erlebnissen – von der Begegnung mit Eisbären bis zum Treffen mit einem russischen Atomeisbrecher.

 Der Kapitän der „Commandant ­­Charcot“, Patrick Marchesseau (r.), an einem ­­Nordpol-Schild auf dem Eis.

Der Kapitän der „Commandant ­­Charcot“, Patrick Marchesseau (r.), an einem ­­Nordpol-Schild auf dem Eis.

Foto: Sven Weniger

Als die Schiffshörner ertönen, ist weit und breit kein Grund für einen Alarm in Sicht. Nur Eis bis zum Horizont, in alle Richtungen. Wir sind allein. Doch weiß jeder an Bord der „Commandant Charcot“, dass nun der große Moment gekommen ist. Hier also liegt der Nordpol. Fast eine Stunde lang hat der Kapitän mit dem Joystick das nagelneue französische Kreuzfahrtschiff im Schritttempo dem Ort genähert, an dem das Bord-GPS mit hohem Ton bei exakt 90 Grad, null Minuten und null Sekunden anschlägt. Der Jubel auf der Brücke, wo Passagiere und Crew gebannt auf die Monitore gestarrt haben, ist enorm. „We are the cham­pi­ons“ tönt es aus den Bordlautsprechern, Champagner wird gereicht – und gut 300 Männer und Frauen werden Mitglieder im exklusiven Club der Menschen, die den nördlichsten Punkt der Erde erreicht haben.

Ein mythischer Ort, denn der geografische Nordpol bleibt unfassbar und existiert nur in den Koordinaten von Seefahrern und Wissenschaftlern. Hier oben gibt es kein Land, keine Markierung am Boden, keine Flagge und nur eine Richtung: Süden. Der Arktische Ozean rund um den Nordpol ist größer als Europa und eine kaum in Worte zu fassende Welt. Was wir im fahlen Tageslicht sehen, sind mal fußballfeldgroße Schollen mit fast geraden Kanten, von Wasserkanälen getrennt; mal zusammengewürfelte Eisplacken wie Milchschaumreste in einer gigantischen Kaffeetasse; mal weiße und blassblaue Scherben wie zersprungenes Porzellan. Hier käme also die Erdachse aus dem Packeis, das das Schiff bis zum Rand des Himmels umgibt.

Fantasie ist gefragt. Jeder kann sich seine eigene Nordpol-Eisscholle aussuchen, seinen eigenen Schmelzwasserpool, der sich hier und da auf dem Treibeis bildet. Ist das der magische Punkt? Schon wenige Momente später wird es ein anderer sein, denn das Packeis ist ständig in Bewegung und driftet bedächtig, aber unaufhaltsam von Ost nach West, von Sibirien über den Pol Richtung Grönland. Auch die Anziehungskraft des Nordpols ist sagenhaft. Dutzende Abenteurer haben ab dem 19. Jahrhundert versucht, hierher zu gelangen, in Schiffen, zu Fuß, auf Skiern, mit Hundeschlitten. Geschafft haben es nur wenige, viele kamen um.

Nun also die „Commandant Charcot“. Die 150 Meter lange Luxusjacht ist das erste und einzige Kreuzfahrtschiff westlicher Bauart, das den Pol erreichen kann. Nur russische Atomeisbrecher waren bisher dazu in der Lage. Seit Putins Krieg gegen die Ukraine sind sie bei uns nicht mehr verfügbar. Die von der französischen Reederei Ponant als Eisbrecher konzipierte und erst im vorvergangenen Jahr in Dienst gestellte „Charcot“ ist auch ein Beispiel umweltschonender Technologie. Flüssigerdgas-Maschinen und Batterien treiben sie an, Flüssigerdgastanks versorgen sie für Monate mit Energie. Alles Trinkwasser wird an Bord hergestellt, verbrauchte Ressourcen wie Plastik werden recycelt. Die Vollverglasung des höchsten Passagierdecks erlaubt Rundumsicht aus der Panoramalounge, einem Restaurant, dem Spa, der Bibliothek. Auf der das Deck fünf umrundenden Freiluftpromenade werden Sitzbänke mit Abwärme beheizt.

In dicke Jacken gekleidet, können sich die Passagiere an Deck der „Commandant Charcot“ Champagner servieren lassen und sich am Kohlebecken (rechts) aufwärmen.

In dicke Jacken gekleidet, können sich die Passagiere an Deck der „Commandant Charcot“ Champagner servieren lassen und sich am Kohlebecken (rechts) aufwärmen.

Foto: Sven Weniger

Inzwischen hat das Schiff an einer Eisscholle angelegt. Wie bei jedem Eis- und Landgang während der 16-tägigen Reise ab Spitzbergen haben die zwanzig Mitglieder des Expeditionsteams der „Charcot“ den Bereich abgesteckt, der betreten werden darf. Eisdicke und -konsistenz sind nicht nur für die Sicherheit von Passagieren und Crew entscheidend. Sollte irgendwo ein Spalt in dem sich ständig bewegenden Treibeis aufgehen und jemand ins Meer fallen, ginge es schnell um Leben oder Tod. Auch die Handvoll Wissenschaftler an Bord, die die Reederei eingeladen hat, führt fast nur Eiserkundung durch. Sie ist, da sind sich alle einig, das wohl wichtigste Thema der Klimaforschung derzeit und nur vor Ort durchführbar. An Bord bietet die Reederei den Experten zwei Labore. Messbojen werden abgesetzt, Meeresproben entnommen. Auch das Alfred-Wege­ner-Institut Bremerhaven hat ein Forschungsprojekt an Bord.

Da im Sommer immer Tag ist, können die Passagiere nach Belieben das Eis erkunden. Die Temperaturen liegen knapp unter dem Gefrierpunkt. Dennoch fühlen wir uns wie in der Tiefkühltruhe. Denn was vom Schiff wie ein erstarrtes Idyll aussieht, ist Wildnis pur. Ein scharfer Wind fegt ständig übers Nordpolarmeer. Dennoch kräuselt sich das Wasser kaum, Treibeis liegt wie ein Deckel darüber. Man lernt den Chill-Faktor kennen. Die gefühlte Außentemperatur: Minus 14 Grad sind es heute. Wir stapfen entlang der Markierungen über den Rundkurs, stoßen gelegentlich gegen unter einer dünnen Schneedecke versteckte Eisbrocken. Guides helfen, wenn jemand einsinkt oder schlicht umgeweht wird. Was als Spaziergang beginnt, wird zu harter Arbeit. Hier würde der Mensch keinen Tag ohne schwere Schutzkleidung überleben. Gibt es hier Leben?

Seit Tagen hat die Crew mit ihren Ferngläsern nach dem gespäht, was jedem Arktisfahrer das Wichtigste ist. Nun kommt es von der Brücke: Eisbär voraus. Da trottet er also, der Herr der Arktis, ein Einzelgänger, der Tausende Kilometer über die Eiswüste wandert, von Scholle zu Scholle springt, monatelang auf dem Packeis lebt, das immer weiter schrumpft. Ein tragischer Held, Synonym für Kraft, Freiheit und Verlust seines Lebensraums – und die Teleobjektive klicken. Das Expeditionsteam stellt auch die Eisbärenwächter, die jeden Ausflug von Bord sichern. Denn noch ist es sein Reich, in das die Menschen kommen.

Kurz danach kommt es zu einem ähnlich emotionalen Erlebnis. Der russische Nukleareisbrecher „50. Jahrestag des Sieges“, noch zu Sowjetzeiten auf Kiel gelegt, kommt der „Charcot“ entgegen. Wie wird das Treffen werden in Zeiten eines tiefen Ost-West-Konflikts, in dem beide Seiten kaum noch miteinander reden? Die „Charcot“ bietet an, beide Schiffe zu stoppen. Und tatsächlich, der feuerrote Eisbrecher hält quer steuerbord an. Dann braust auf beiden Seiten Jubel auf. Crewleute wie Passagiere rufen und hüpfen auf unserem Helideck ausgelassen auf und ab. Drüben passiert das Gleiche. Die Außendecks sind besetzt, blaue Flaggen grüßen uns. Beide Eisbrecher lassen die Schiffshörner aufheulen. Es ist wie eine kurze Verbrüderung auf neutralem Gebiet gegen den Wahnwitz der Weltpolitik. Selten sahen wir danach an Bord so viele frohe Gesichter. Dann dreht der Atomeisbrecher ab und entschwindet wie ein Geist aus besseren Zeiten.

 Beim Treffen mit einem russischen Atomeisbrecher braust auf beiden Seiten Jubel auf.

Beim Treffen mit einem russischen Atomeisbrecher braust auf beiden Seiten Jubel auf.

Foto: Sven Weniger

Mit einem Traumschiff tagelang durch das Nordpolarmeer zu kreuzen auf einen imaginären Punkt zu, der nicht anders aussieht als Millionen Quadratkilometer darum herum; dabei in edlen Kabinen zu wohnen; in Lounges durch Panoramafenster in die Ferne zu schauen, einen Drink in der Hand – wie nachhaltig und vertretbar ist das? Auch an Bord wird darüber gesprochen, bei Passagieren, Wissenschaftlern, Crew. Sicher gibt es nicht die eine Antwort. Doch will auch die aufwendige Eisforschung bezahlt werden. Da klingt die Zusage von Ponant, auf durch zahlende Gäste finanzierten Reisen zum Nordpol dessen Erforschung zu fördern, wie ein Joint Venture mit Perspektive. Und wer von dieser scheinbar so monotonen Welt aus Eis und Wasser am Nordende der Erde zu Hause berichten kann, wird danach wohl auch zu ihrem Botschafter.

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