London Ein Friedhof mit englischer Seele

Eine Führung über den Kensal Green Cemetery im Westen Londons bringt Besuchern die Engländer näher: Neben Royals ruhen Erfinder, sozial Engagierte und Schriftsteller, Kinder und Alte, Arm und Reich. Es wird gemunkelt, dass Freddie Mercury hier begraben ist.

 Akrobat Charles Blondin fand in London seine letzte Ruhestätte. Bekannt wurde er für seine Hochseil-Künste.

Akrobat Charles Blondin fand in London seine letzte Ruhestätte. Bekannt wurde er für seine Hochseil-Künste.

Foto: Anja Kühner

Wer „London“ und „Promi-Friedhof“ hört, der denkt an den Highgate Cemetery. Doch ist er nur einer der „Magnificent Seven“ – ein Ring aus „glorreichen sieben“ parkähnlichen Friedhöfen umschließt die Stadt an der Themse. Als London Mitte des 19. Jahrhunderts binnen kurzer Zeit auf über zwei Millionen Einwohner wuchs, platzten die bisherigen Friedhöfe aus allen Nähten. Aus hygienischen Gründen beschloss das Parlament, erstmals Friedhöfe auf nicht-kirchlichem Grund anlegen zu lassen. Der Kensal Green Cemetery wurde im Jahr 1833 als ältester dieser kommerziellen Friedhöfe eröffnet.

Claire gehört zu der Handvoll Freiwilliger, die sonntags Führungen anbieten. Die pensionierte Angehörige der Royal Air Force führt zuerst zu den Gräbern der Royals: Ein Earl of Sussex liegt hier begraben, ebenso der Duke of Cambridge, umringt von seinen vielen Mätressen. „Ein Spaziergang über den Kensal Green Friedhof bringt die englische Seele näher“, sagt eine Besucherin. Vor allem, wenn Claire dazu die teils tragikomischen Geschichten der Verstorbenen erzählt.

Zu Claires Lieblingsgräbern zählt das des „Großvaters der roten englischen Briefkasten-Säulen“, Anthony Trollope, der eigentlich Schriftsteller war. Auch der Akrobat Charles Blondin wurde hier begraben. Auf einem Hochseil lief er mehrmals über die Niagarafälle. „Mitten über den Fällen bereitete er sich aus Show-Gründen ein Omelette zu“, erzählt Claire und berichtet von seiner letzten Überquerung: „Im Alter hatte er Schulden, musste nochmal rauf, schlich zitternd über das Seil. Tausende hielten den Atem an – doch kurz vor dem sicheren Fels drehte er um und spurtete sicheren Schrittes schnell dorthin zurück, wo er begonnen hatte.“ Gestorben ist der Showman ganz friedlich unweit des Friedhofs.

 Claire ist pensionierte Angehörige der Royal Air Force und bietet freiwillig Führungen zu den Gräbern an.

Claire ist pensionierte Angehörige der Royal Air Force und bietet freiwillig Führungen zu den Gräbern an.

Foto: Anja Kühner

Einen kleinen Balanceakt zwischen fast zugewachsenen Gräbern später stehen wir vor einem schlichten kleinen Kreuz: „Here lies Marigold, daughter of Winston and Clementine Churchill“ steht darauf. Während der britische Premierminister mitsamt der übrigen Familie in der Nähe von Oxford ruht, liegt sein im zarten Kindesalter von nur drei Jahren verstorbenes Töchterchen hier. „Die Familie wollte sie oft besuchen, daher wurde sie in London begraben. Eigentlich hatten sie vor, sich alle in der Nähe ihres Kindes begraben zu lassen“, schildert Claire und weist auf das Gras rings um das Kindergrab. „Hier hatten sie schon die
Grundstücke auf Ewigkeit gekauft.“

 Der Kensal Green Cemetery wurde im Jahr 1833 als ältester kommerzieller Friedhof Londons eröffnet.

Der Kensal Green Cemetery wurde im Jahr 1833 als ältester kommerzieller Friedhof Londons eröffnet.

Foto: Anja Kühner

Immer wieder kämen Fans von Oscar Wilde nach Kensal Green, erzählt Claire. Die muss sie dann enttäuschen – der irische Schriftsteller fand seine letzte Ruhestätte in Paris. Hier liegt „nur“ seine Mutter begraben.

Auf Kensal Green ruht auch Charles Babbage. Der Mathematiker gilt als Erfinder des allerersten Computer-Vorläufers. Auf dem Grabstein des Reverend Harry Baden-Powell, fehlt jeglicher Hinweis auf seine Tochter Agnes. Sie hatte die Pfadfinderinnenbewegung gegründet. Sein Sohn Robert war der Gründer der Boy Scouts. „Da waren sich einige wohl nicht grün“, mutmaßt Claire.

Viele Grabmale verfallen. Claire bittet inständig: „Wenn Sie keine Erben haben, dann lassen Sie sich einen schlichten niedrigen Grabstein machen.“ Sie zeigt auf üppig verzierte Säulen, die Verstorbene hieß Lilly. Vier Engel hielten zur Erinnerung an ihren Namen Lilien in den Händen – doch die Blumen sind mitsamt der Hände zum Großteil heruntergefallen. An den einsturzgefährdeten Grabaufbauten sollten Besucher nur mit gebührendem Abstand vorbeigehen. So sind die Mausoleen und Grabstätten selbst ein Sinnbild von Werden und Vergehen.

Nur ein Grab lässt sich partout nicht finden: Wo liegt Freddie Mercury? Der Sänger von Welthits wie „We are the Champions“ und „Bohemian Rhapsody“ der Band „Queen“ soll hier beerdigt worden sein. Eine langjährige Freundin ließ vor einigen Jahren eine Gedenkplatte auf dem Londoner Friedhof anbringen – doch schon wenige Tage später war das Stück gestohlen. Oder wurde Mercurys Asche doch über dem Genfer See verstreut? Dieses Rätselraten um sein Grab hätte dem legendären Queen-Sänger sicherlich auch gefallen.

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