Unter Mücken und Bären Kanadas wilder Nordwesten

Whitehorse/Inuvik (RPO). Richtig bevölkert ist der Nordwesten Kanadas nicht mehr, zumindest nicht von Menschen. Dafür treffen Touristen auf Karibu-Herden, Elche und Bären. Und im Sommer leider auch auf viele Mücken. Dafür ist schon die Fahrt Richtung Norden ein Abenteuer.

Kanadas wilder Norden
6 Bilder

Kanadas wilder Norden

6 Bilder

Judith sieht mit Sorge auf ihre Gartenparzelle. Das Basilikum gedeiht ganz gut, doch die Karotten und der Salat wollen auch im Juli nicht so richtig wachsen. "Vielleicht ist es noch zu kalt", fragt sich Judith, die in Inuvik lebt, dem zweitgrößten Ort der Northwest Territories in Kanada. Das Klima ist hier - weit nördlich des Polarkreises - rau, kalt und windig. Darum haben sich die Kleingärtner in den Schutz einer Halle begeben, die einst zum örtlichen College gehörte. Geschützt vor Wind und Wetter, wächst hier, was wächst - und das ist in jedem Jahr etwas anderes.

Bei 66 Grad und 33 Minuten nördlicher Breite durchschneidet der Polarkreis die Northwest Territories und das westlich angrenzende Yukon. Richtig bevölkert ist dieser Teil Kanadas nicht mehr, zumindest nicht von Menschen. In Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon, leben etwa 23.000 Menschen; im ganzen Territorium, das rund doppelt so groß ist wie Deutschland, sind es kaum mehr als 30.000.

Juni und Juli bleibt es rund um die Uhr hell

Wandernde Karibu-Herden dagegen können leicht aus mehreren Tausend Exemplaren bestehen. Ebenfalls stark vertreten sind Moschusochsen, Elche und Mücken von ungeheurer Schnelligkeit und Stechwut. "Die sind nur im Sommer da", sagt Sheila Dodd, die seit 20 Jahren in Yukon lebt. Dann allerdings sind sie in Schwärmen aktiv - Tag und Nacht. Der Sommer dauert aber nur ein paar Monate, und wie überall hoch im Norden geht dann die Sonne stets nur kurz unter. In Inuvik bleibt es im Juni und Juli sogar rund um die Uhr hell. "Dafür ist es im Dezember komplett dunkel", sagt Gärtnerin Judith. Kanadas Nordlichter tanken im Sommer daher Sonne, so viel sie nur können.

Eine Insel gibt es im Polarmeer, die etwa ein halbes Jahr lang tatsächlich eine Insel und während der restlichen Monate durch dickes Eis mit dem Festland verbunden ist: Herschel Island. Die Ureinwohner vom Stamm der Inuvialuit und ihre Vorfahren haben Qikiqtaruk, wie sie die Insel nennen, lange als Ausgangsort für Jagden und die Fischerei genutzt. 1826 betrat erstmals ein Europäer die Insel und benannte sie nach dem britischen Chemiker Sir John Herschel. Später kamen Walfänger, die Krankheiten mitbrachten und die Ureinwohner damit fast ausrotteten. Heute fliegen im Sommer Wasserflugzeuge Besucher nach Qikiqtaruk. Ganzjährig lebt dort heute niemand mehr.

Für Touristen ist der äußerste Nordwesten Kanadas ein beliebtes Ziel - aber auch der Weg dorthin ist für viele ein großes Erlebnis. Von Whitehorse aus sind es rund 1200 Kilometer bis nach Inuvik. Der Klondike Highway, der in der Nähe von Dawson City in den Dempster Highway übergeht, führt durch unglaublich erscheinende Weiten. Die Berge sind hier mindestens so hoch wie die in den Alpen, und nur diese einzige Straße zerschneidet das Land. Getankt wird, wo es Benzin gibt - also etwa alle 350 Kilometer in Orten wie Dawson City und Fort McPherson. Ähnlich sieht es mit dem Kauf von Nahrung und Wasser sowie mit Betten, Duschen und Erste-Hilfe-Kästen aus.

Autofahrer grüßen sich unterwegs

Bis Dawson City bewegt sich die asphaltierte Straße in den Norden auf den Spuren der Goldsucher, die nach Yukon gingen und in ihren Claims noch heute nach Gold suchen. An einer Kreuzung in der Prärie beginnt der "Dempster", eine Straße aus losen Kieselsteinen. Es gibt keine Begrenzungen, keine Leitplanken, keine Spuren - dafür aber gelegentlich ein Schild, wie weit das nächste Haus entfernt ist.

Alle Fahrer, die auf dem "Dempster" unterwegs sind, grüßen sich. Dan zum Beispiel ist hier auf seiner Harley unterwegs. Die Grenze der Northwest Territories zum Yukon hat er in Richtung Süden passiert, doch dabei ist ihm ein Fehler unterlaufen, der ihm 50 Kilometer zu spät auffällt: "Ich habe die Markierung zum Polarkreis übersehen", erzählt er anderen Bikern in Eagle Plains, einer Kombination aus Hotel, Restaurant, Tankstelle, Hubschrauberlandeplatz und Laden entlang des Weges. Das ärgert den 60-Jährigen, denn ein Bild von sich und dem Polarkreis-Anzeiger hätte er gerne mit nach Hause genommen.

Eigentlich fällt es schwer, auf dem Weg etwas zu übersehen - Seen, Flüsse, Berge und Täler sind nur von dieser einen Straße erschlossen und hinterlassen den Besucher überwältigt. Wer Glück hat, trifft entlang des Weges auf Elche, Bären, Biber oder Moschusochsen. Auch Wölfe und Kojoten leben in der arktischen Region, in der der Boden das ganze Jahr hindurch tief gefroren bleibt. In Orten wie Inuvik sind aus diesem Grund alle Häuser auf Stelzen gebaut. So können die Bewohner besser auf Änderungen in der Statik reagieren. Auch die Versorgungsleitungen laufen überirdisch, ebenfalls zum Schutz vor den harschen Klimabedingungen. Einzig die kleine Iglu-Kirche, das weltweit nördlichste katholische Gotteshaus namens "Notre Dame", steht auf eigens für den Bau planiertem Boden - ganz ohne Stelzen.

Im Nordwesten Kanadas wachsen überwiegend Nadelbäume, die für europäische Verhältnisse sehr kurz erscheinen. Die Wurzeln können nicht tief in den Boden vordringen und finden auch kaum Nahrung. Die Flora ist dennoch alles andere als mickrig. Sogar einen botanischen Wetterfrosch haben die Menschen in Kanadas "wahrem Norden", erklärt Sheila Dodd: "Wir nennen das Fireweed - eine intensiv pinkfarbene Pflanze, die wie Unkraut am Wegesrand steht." An ihrem Stiel wachsen kleine Blüten, die von unten nach oben aufblühen, sobald das Wetter warm genug ist. "Das beginnt im Juni, im August spätestens ist die Pracht dann wieder vorbei." Das ist dann das Zeichen für die Bewohner, die Winterausrüstung wieder in greifbare Nähe zu holen. "Denn wenn alle Blüten aufgeblüht sind, ist der Sommer zu Ende."

(tmn)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort