Prangli in Estland Eine Insel mit drei Dörfern

Sauna, Boot, Wasser: Viel mehr braucht es nicht zum Glück der Esten. Auf der kleinen Insel Prangli mit ihren gerade mal 70 Bewohnern riss die Bindung zwischen Mensch und Meer - anders als an Estlands übrigen Küsten - nie ab.

 Prangli ist eine kleine estnische Insel in der Ostsee.

Prangli ist eine kleine estnische Insel in der Ostsee.

Foto: CC BY kmare 2.0/kmare

Eine Ampel besitzt Prangli. Einst zeigte sie an, ob die neben ihr liegende Bar offen war. Seit die Bar schloss, ist die Ampel stets grün. Auch sonst ist das Leben auf der neun Kilometer vor der estnischen Nordküste gelegenen Insel planbar: Prangli besitzt drei Fischerdörfer, einen Leuchtturm, eine Holzkirche, ein Restaurant, ein Geschäft für Holzarbeiten und eine Küste voller Findlinge. Nur 70 Menschen wohnen hier ganzjährig; im Sommer sind es gut doppelt so viele. Die Insel-Schule besuchen derzeit fünf Schüler.

Zur Zeit der ersten Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1918 lebten zehn Prozent der Esten auf Inseln. Heute ist es nur noch ein Prozent. Während Estlands Zwangsmitgliedschaft in der Sowjetunion waren Inseln für die Esten nur Schatten am Horizont. Nur Fischer durften Boote nutzen; Grenzsoldaten und Zäune bewachten Strände und Küsten. Denn Estlands Inseln waren Grenzgebiet. Bis auf die beiden größten, Saaremaa und Hiiuma, wurden alle bewohnten Inseln geräumt. Prangli war die einzige vor der Nordküste, deren Bewohner bleiben durften. Die Fischer-Kolchose galt als Vorzeigebetrieb und war wichtig für die Versorgung. Auch weil die Fischer gut verdienten, schien das Risiko ihrer Flucht übers Meer nach Finnland kalkulierbar.

Den vor der Küste gefangenen Dorsch verarbeiteten sie in einer Halle neben dem Hafen. Heute sind hier die Touristeninformation, eine Bühne und Sofas untergebracht, auf denen Fährpassagiere aufs Schiff warten können. Teppiche, Wandbehänge und eine Bar bemänteln die Tatsache, dass die Halle ihre besten Tage hinter sich hat. "Seit zehn Jahren soll sie durch ein modernes Gebäude mit Duschen und Sauna ersetzt werden", sagt Annika Prangli. "Aber sie ist den Leuten ans Herz gewachsen."

Annika Prangli ist in Tallinn aufgewachsen. Seit sie Anders Prangli aus Südestland heiratete, trägt auch sie den Namen der Insel, die für Festland-Esten so lange tabu war. Das mochte Zufall oder Schicksal sein; jedenfalls beschloss das Paar, sich die Insel anzusehen. "Wir stellten fest, dass hier sehr nette Menschen leben", so Annika. Sie kamen immer wieder, kauften ein Sommerhaus und gründeten eine Agentur, die Touren auf die Insel organisiert. Immer mehr hat sich das Leben der Familie mit drei Kindern seither nach Prangli verlagert.

Weder Wölfe noch Wüstlinge

Als der Insel-Schule Lehrer fehlten, sprang Annika ein und unterrichtete Englisch, Geschichte, Erdkunde und Biologie. In eisigen Winternächten war sie oft der einzige Mensch an der Südküste. Unbehaglich war ihr nie. Auf Prangli gibt es weder Wölfe noch Wüstlinge, nur widriges Wetter. "Manchmal fiel so viel Schnee, dass ich morgens kaum aus der Haustür kam." Dann musste sie auf Evakuierung durch den Schneepflug warten, weil ihr Auto eingeschneit war. "Ich ließ es stehen, bis der Schnee schmolz." Die Gefasstheit der Esten ist unerschütterlich - zumindest, solange Sauna und Wasser erreichbar sind, von denen ihr seelisches Gleichgewicht in hohem Maß abhängt.

Seit 600 Jahren ist Prangli besiedelt. Schweden, Finnen und Esten lebten hier und verdienten ihr Geld mit Fischfang, Wodkaschmuggel und Robbenjagd. Überall sind die Beziehungen zum Meer sichtbar: Schuppen sind aus Treibholz gezimmert, in Gärten liegen Boote und Bojen.

Nur beim Hausbau drehen die Menschen dem Meer seit jeher den Rücken zu. Noch heute entfalten die meisten Sommerhäuser im Inselnorden ihren Zauber im Schutz von Kiefern und mit Sicherheitsabstand zur Küste. Und obwohl Annika Besucher aus Europa, Asien und Amerika hergebracht hat, sind Strände und Pfade meist menschenleer. Selbst im Sommer scheint es hier möglich, die Zeit aufzuhalten.

Das war schon immer so. Auch in Sowjetzeiten ruhte am Sonntag alle Arbeit. Bis heute sind die Menschen hier religiöser als im übrigen Estland. "Wir leben auf Gottes Rücken", sagen sie über die besondere Beziehung zwischen Prangli und der Vorsehung. Denn Verschleppung und Krieg, unter denen Estland im 20. Jahrhundert schwer litt, streiften die Insel nur.

Der Wald bewahrt die Geschichten jener Zeit. Die Reste eines Flugzeugmotors zeugen vom Absturz der Maschine eines deutschen Kampfpiloten, der sich retten konnte. Die Insulaner halfen ihm, zum Dank überließ er ihnen die Seide seines Fallschirms, aus der eine Generation junger Frauen ihre Brautkleider nähte.

Es war eines der harmloseren Ereignisse eines Kriegs, in dem Estland zwischen den Fronten fast zerrieben wurde. Im Sommer 1941 nahmen russische Truppen auf dem Rückzug vor den Deutschen alle Schiffe mit - und 20.000 Esten. Ein Holzkreuz, ein Anker und 42 weiße Kreuze im Wald erinnern an die Eestirand, das am 24. August mit fast 3000 Passagieren an Bord von der deutschen Luftwaffe getroffen wurde und auf Grund lief.

1906 wurden hier und auf dem nahen Inselchen Keri Naturgasquellen gefunden. Sie bescherten Keri für eine Weile den einzigen mit Naturgas befeuerten Leuchtturm der Welt. Pranglis Quelle war für eine solche Nutzung zu instabil, doch mittels eines Rosts befeuert das Gas im Wald nun eine weitere estnische Leidenschaft: die fürs Grillen.

Foto: CC BY kmare 2.0

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