Schweiz Im Tal der röhrenden Hirsche

Der Schweizer Nationalpark ist ein Rückzugsgebiet für bedrohte Tiere und wanderfreudige Touristen. Und der einzige im ganzen Land.

 80 Kilometer Wanderwege erschließen den Schweizer Nationalpark für Besucher.

80 Kilometer Wanderwege erschließen den Schweizer Nationalpark für Besucher.

Foto: Ulrich Willenberg

„Da schaut, dort fliegt ein Steinadler. Er jagt nach Murmeltieren.“ Exkursionsleiter Martin Schmutz zeigt gen Himmel. Die meisten seiner Gäste entdecken den stolzen Vogel erst bei einem Blick durch das Fernglas. Die Murmeltiere haben die Gefahr längst erkannt. Mit einem schrillen Pfiff warnen die pummeligen Pelzträger ihre Artgenossen und flitzen in die sicheren Höhlen.

Schmutz begleitet eine Gruppe von Wanderern im einzigen Nationalpark der Schweiz. Im Herzen der Alpen gelegen, beherbergt das Schutzgebiet eine reiche Flora und Fauna.

Inzwischen ist auch der vom Aussterben bedrohte Bartgeier hier wieder heimisch, eine von 100 Vogelarten im Park. Früher machten Menschen Jagd auf den imposanten Vogel, dessen Spannweite fast drei Meter beträgt. „Die Einheimischen glaubten, dass er sich Lämmer und sogar Kinder holt“, berichtet Schmutz. Das ist natürlich Unsinn, wie man längst weiß. Auf seinem Speiseplan stehen auch Knochen von verendeten Tieren, die der Vogel aus großer Höhe auf Felsen fallen lässt, bis sie in schnabelgerechte Stücke zerspringen.

Unrecht getan haben die Menschen lange Zeit auch dem Tannenhäher, der das Logo des Nationalparks ziert. Früher wurden Prämien für jedes getötete Tier gezahlt. „Er galt als schlechter Vogel, weil er die Samen der Arvenbäume frisst“, sagt Schmutz. Einheimische fürchteten deshalb, dass sich die Bäume nicht weiter vermehren könnten. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie Forscher erst vor 50 Jahren feststellten. „Der Tannenhäher sorgt für die Verbreitung der Arven“, erzählt Martin.

 Exkursionsleiter Martin Schmutz

Exkursionsleiter Martin Schmutz

Foto: Ulrich Willenberg

Und das funktioniert so: Um über den Winter zu kommen, sammelt jeder der weiß gepunkteten Vögel 10.000 Samen ein und versteckt sie als Futtervorrat. Bei einem Gedächtniswettbewerb würde der Tannenhäher jeden Menschen schlagen, findet er doch 80 Prozent wieder. Den kleineren Rest vergisst er. Genug, damit sich die Bäume weiter verbreiten. „Den haben die Vögel gepflanzt“, sagt Schmutz und zeigt auf einen Arvenwald.

Bis zu 150.000 Besucher kommen jedes Jahr, um den Nationalpark zu erkunden. Erlaubt ist dies nur auf dem 80 Kilometer langen Wegenetz. Lärm zu machen ist verboten. „Sprechen ist aber erlaubt.“ Doch viel besser ist es, einfach zu schweigen und die Natur still zu genießen.

Ursprünglich wurde der älteste Nationalpark der Alpen zu Forschungszwecken eingerichtet. Wissenschaftler wollten herausfinden, wie sich die Natur ohne Zutun des Menschen entwickelt. Bis heute bleiben Tiere und Pflanzen sich selbst überlassen. Nichts darf hier verändert werden. Umgestürzte Bäume bleiben liegen, in deren morschen Holz sich Käfer einnisten. Über 600 Pflanzen, darunter Enzian, Edelweiß und der leuchtend gelbe Rhätische Mohn gedeihen auf satten Almwiesen oder inmitten von Geröllhalden.

Noch immer laufen rund 50 wissenschaftliche Studien in dem Park, unter anderem zum Klimawandel. Auf den haben Schmetterlinge offenbar bereits reagiert, die Biologen auch in höheren Lagen entdeckten.

Der Herbst mit seinen bunten Farben und angenehmen Temperaturen ist eine ideale Zeit, um den Park zu besuchen. Mit der Ruhe ist es dann zwar vorbei, wenn die Hirsche in der Brunft um die Wette röhren. Der eigentliche Geschlechtsakt dauert nur kurz. Besonders gut sind die etwa 2000 Tiere im wunderschönen Val Trupchun zu beobachten, das als berühmtestes Hirschtal der Alpen gilt.

Ab und zu ziehen auch Bären durch den Nationalpark, die aus dem norditalienischen Trentino einwandern. „Sie sind hier willkommen“, sagt Martin Schmutz. Doch nicht überall in der Schweiz. Südlich des Parks in Puschlav wurde im Februar 2013 Braunbär „M 13“ abgeschossen. Immer wieder hatte er sich in Dörfern herumgetrieben und keine Scheu vor Menschen gezeigt. Zuletzt sorgte der Petz für Schlagzeilen als er eine 14-Jährige so sehr erschreckte, dass sie mit einem Schock in eine Klinik eingeliefert wurde.

Wenn im Oktober die lärmende Brunft vorbei ist und sich die Lärchen in leuchtendes Gold verwandeln, dann wird es ganz ruhig im Park. Fällt der erste Schnee, dann steigen die Hirsche hinab in die grünen Täler außerhalb des Nationalparks, um zu äsen.

Längst haben es sich die Murmeltiere in ihren mit Heu ausgepolsterten Höhlen gemütlich gemacht. Ganze 200 Tage dauert ihr Winterschlaf. In dieser Zeit zehren sie von den Fettreserven. „Das ist kein lustiges Leben“, vermutet Schmutz. Die Temperatur der Murmeltiere sinkt während des Winterschlafs von 38 bis auf etwa fünf Grad ab, das Herz schlägt nur zweimal die Minute.

Im Winter ist der Nationalpark gesperrt. Martin Schmutz arbeitet dann als Skilehrer. Touristen können sich das ganze Jahr im Besucherzentrum in Zernez über das Schutzgebiet informieren. Die interaktive Ausstellung lohnt auch für Kinder. Besonders spannend ist der simulierte Flug eines Bartgeiers über die Alpen, die Route lässt sich per Mausklick bestimmen. Eine nette Idee ist auch die „Geweihdrehorgel“. Die Installation ermöglicht es den Gästen, einem ausgestopften Hirschkopf unterschiedlich entwickelte Geweihe aufzusetzen. Und sie können im begehbaren Murmeltierbau einen Eindruck vom Leben unter Tage gewinnen.

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