USA Grün, grüner, Chicago

Geburtsort des Wolkenkratzers, Startpunkt der Route 66, eine spektakuläre Skyline und zudem die grünste Großstadt Amerikas. Mit nachhaltigen Projekten wird aus der ehemaligen Ganovenstadt eine umweltfreundliche Vorzeigemetropole.

 Der 2004 eröffnete Millennium Park ist eine Mischung aus Naherholungsgebiet, Kunstausstellung und kulturellem Veranstaltungsort.

Der 2004 eröffnete Millennium Park ist eine Mischung aus Naherholungsgebiet, Kunstausstellung und kulturellem Veranstaltungsort.

Foto: Adam Alexander Photography

Schon in den 1950ern sang Frank Sinatra in einer Hymne auf die Stadt: „You’ll lose the blues in Chicago“. Und auch heute ist die Stadt am Lake Michigan für viele die bessere Alternative zu New York – oder anders gesagt, das New York des Mittleren Westens. Dass sich Chicago zu einer Metropole mit derartiger Lebensqualität mausern würde, war in den 1920ern noch nicht ersichtlich – damals, als der berüchtigte Gangsterboss Alphonse Gabriel „Al“ Capone die Unterwelt beherrschte und ihr einen Ruf der Gesetzlosigkeit verschaffte. Noch bis heute hat sie mit einigen weniger schmeichelhaften Beinamen zu kämpfen: „The Second City“ (nach New York City), „The Windy City“ wegen des eisigen Winterwindes oder „Meatpacking City“ (Stadt der Fleischverpackung). Letzterer rührt daher, dass Chicago ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Zentrum der amerikanischen Fleischverarbeitungsindustrie galt. Mit der Industrialisierung wurde in Chicagos Schlachthöfen das Fließband erfunden und die Lohndrückerei perfektioniert – Kapitalismus wie er leibt und lebt.

Mittlerweile werden die alten Schlachthäuser nach und nach saniert und umfunktioniert. In eine der ehemaligen Fabriken ist 2011 „Plant Chicago“ eingezogen. Die von John Edel gegründete gemeinnützige Organisation vereint diverse Umweltprojekte, unter anderem eine Fischfarm, einen Hydrokultur-Garten und die Whiner Beer Company. Alles beruht auf dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft (Netto-Null-Energiesystem), in dem auch Abfälle eine wertvolle Aufgabe haben. Anstatt sie auf Deponien verkommen zu lassen, werden sie erneut als Rohstoff verwendet. „Das in der Brauerei verbrauchte Getreide wird mithilfe einer speziellen Anlage in Strom umgewandelt, der wiederum dem Fabrikgebäude zugeführt wird“, berichtet Brauereimeister Brian Taylor. Die besten natürlichen Ressourcen seien diejenigen, die bereits extrahiert wurden.

Kein Wunder also, dass im Plant Do-It-Yourself- und Upcycling-Workshops an der Tagesordnung sind. „Wer etwas über Aquaponik und die Doppelnutzung von Wasser lernen will, ist in meinem Workshop genau richtig“, erklärt Plant-Mitarbeiter Eric Weber. Das Verfahren vereint die Aufzucht von Fischen in einer kreislaufbasierten Aquakultur-
einheit und die hydroponische Kultivierung von Nutzpflanzen – in Europa auch unter dem Begriff „Tomatenfisch“ bekannt. Dass der Betrieb von Aquaponiksystemen noch immer in den Startlöchern steckt, obwohl er umweltverträglicher und nachhaltiger nicht sein könnte, will Plant Chicago ändern. Man müsse den Menschen ein Vorbild sein und mit gutem Beispiel voran gehen.

 Chicago gilt als grünste Großstadt der USA. Auch der Hafen ist bepflanzt.

Chicago gilt als grünste Großstadt der USA. Auch der Hafen ist bepflanzt.

Foto: City of Chicago/Patrick L. Pyszka

Genau das wird sich auch Ex-Bürgermeister Richard M. Daley (bis 2011 im Dienst) gedacht haben, als er 1989 den ersten Baum der „Tree Planting Campaign“ pflanzte und damit den Startschuss zu „Green Chicago“ gab. 30 Jahre und eine halbe Million Bäume später, haben alle Schnellstraßen der Stadt bepflanzte Mittelstreifen, der städtische Fuhrpark größtenteils umweltfreundliche Hybridfahrzeuge und die City Hall, das Rathaus von Chicago, ein grünes Dach. Die Inspiration dazu soll Richard M. Daley bei einem Besuch der deutschen Partnerstadt Hamburg gefunden haben. Nachdem das aufwendig und kostspielig begrünte Dach das Rathausgebäude im Sommer nachweislich abkühlte, Regenwasser zurückhielt und letztlich die Energiekosten senkte, wurde den Hamburgern ganz herzlich gedankt und viele weitere Gebäude mit Dachgärten versehen. Mittlerweile verschönern über 400 Grünflächen die Dächer von Chicago, mehr als in allen anderen amerikanischen Städten zusammen.

Nichtsdestotrotz ist das grüne Herz von Chicago der zehn Hektar große Millennium Park, der sich seit 2004 über zwei Parkgaragen und den Bahnhof für Vorortzüge erstreckt und damit das größte grüne Dach der Stadt ist. Man könnte tadelnder Weise meinen, dass sich die Bauherren der Elbphilharmonie ein Beispiel am Bau des Millennium Parks genommen haben, denn auch dieser hat mehrere 100 Millionen Dollar mehr gekostet und vier Jahre länger gedauert als geplant (Die Eröffnung war ursprünglich zur namensgebenden Jahrtausendwende geplant). Der fertige Millennium Park kann sich jedoch sehen lassen: eine Mischung aus Naherholungsgebiet, Kunstausstellung und kulturellem Veranstaltungsort.

 Das Cloud Gate ist eine Skulptur des britischen Künstlers Anish Kapoor.

Das Cloud Gate ist eine Skulptur des britischen Künstlers Anish Kapoor.

Foto: Adam Alexander Photography

Mit den Dachgärten kehrten auch die Bienen in die Stadt zurück. Auf dem Chicago Cultural Center und der City Hall sind Bienenstöcke beheimatet, deren Bewohner im Sommer die Blüten zahlreicher Parkanlagen und Gärten bestäuben. Mit dem speziellen „Rooftop Honey“, den es sogar zu kaufen gibt, kann man Mun Wong allerdings nicht locken. In ihrem kleinen asiatischen Restaurant im Stadtteil Edgewater geht nur rein pflanzliche Kost über die Theke. Ursprünglich hatte die in Macau geborene Chinesin rein gar nichts mit der Gastronomiebranche am Hut. Seit 13 Jahren leitet sie mit ihrem Mann erfolgreich ein Unternehmen für Sicherheitssysteme und wurde 2016 vom Chicago Business Journal unter die 50 einflussreichsten Frauen Chicagos gewählt.

Dass sie das Restaurant, in dem sie davor selbst immer wieder gegessen hatte, übernehmen würde, hätte sie sich nicht träumen lassen. Es war Schicksal – und eine Herzensangelegenheit. „Ich habe mir für Chicago schon immer ein größeres veganes Angebot gewünscht. So wie in LA oder New York“, schildert Mun. „Dann bot sich mir die Gelegenheit, selbst für diese Veränderung zu sorgen und ich dachte mir, let’s do it.“ Seit der Übernahme des Alice & Friends‘ Vegan Kitchen kreiert sie mit ihrem multikulturellen Team neue Desserts und asiatisch inspirierte Speisen. Die Zutaten stammen größtenteils von lokalen Produzenten und im Sommer gibt es Kräuter aus Eigenanbau. Der vegane Käse wird wie fast alles hausgemacht. Muns Ziel ist es, ähnlich wie bei Alice im Wunderland ein unbeschwertes Reich für Veganer und Pflanzenbewusste zu schaffen und ihnen das Vegansein so schmackhaft und einfach wie nur möglich zu machen. Dafür nimmt sie auch eine 100-Stunden-Woche in Kauf, die sie durch die Doppelbelastung mit ihrem Job bei VinTech Security Systems hat. „Chicago ist eine dynamische und fortschrittliche Stadt mit sehr hoher Lebensqualität und wichtiger Vorbildfunktion“, findet die Unternehmerin.

Das bedeute aber nicht, dass Amerikas grünste Stadt nichts mehr verbessern könnte. „Besser geht es ja immer, wie man so schön sagt“, konstatiert Mun und widmet sich einem ihrer neuen Rezepte. Mit der Weiterführung des Restaurants hat die Asiatin bereits einen bedeutenden Beitrag geleistet: Chicagos Gastro-Landschaft zählt ein grünes Restaurant mehr. Ihr Motto: „Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.“

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde unterstützt von Choose Chicago.

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