Gletscherschmelze: Das umgekehrte Gelübde

Weil ein Gletscher im Schweizer Kanton Wallis viele Jahrhunderte wuchs und mit Naturkatastrophen die dort lebende Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, legten die Bewohner einst ein Gelübde ab, welches von Papst Innozenz XI. genehmigt wurde, um seine weitere Ausdehnung zu stoppen.

In einer feierlichen Prozession erneuern die Walliser ihr Gebet noch heute jedes Jahr aufs Neue - nun aber, erneut mit Erlaubnis des Heiligen Vaters, umgekehrt, also gegen ein weiteres Abschmelzen aufgrund des Klimawandels. Der Glaube an Gott kann Berge versetzen, heißt es in der Bibel. Dass er Gletscher zum Schrumpfen bringen kann, davon waren die mehrheitlich katholischen Bewohner der Gemeinde Fiesch im Schweizer Kanton Wallis schon früh überzeugt. Ihr Gottvertrauen beruht auf einer 340-jährigen Erfahrung: Anfang des 17. Jahrhunderts stürzten immer wieder gewaltige Eismassen in den Märjelensee, der See lief über, und die Ausbrüche führten zu verheerenden Überschwemmungen, lösten Geröll- und Schlammlawinen aus, die bis in die nahe gelegene Stadt Brig schwere Schäden anrichteten. Ursache war der 15 Kilometer entfernte, über 3000 Meter höher gelegene Aletschgletscher.

In ihrer Verzweiflung beschlossen 1678 die Katholiken von Fiesch, dem unberechenbaren Treiben ihres Eisgiganten mit Gottes Hilfe ein Ende zu setzen. Sie gelobten gegenüber Papst Innozenz XI., künftig gottgefällig zu leben und jedes Jahr in einer feierlichen Prozession zur Kapelle im Ernerwald zu pilgern, um gegen die weitere Ausdehnung des Aletschgletschers zu beten. Der Papst stimmte zu. Der Herrgott offenbar auch. Seit 1678 blieb Fiesch von Naturkatastrophen seitens des Gletschers verschont. Aber hat es Gott zu gut gemeint?

Der Gletscher schrumpft und schrumpft. Zwar ist der Eisstrom mit 23 Kilometern Länge, einer Dicke von fast einem Kilometer und einer Fläche von 86 Quadratkilometern noch immer der größte und mächtigste Gletscher der Alpen - würde man ihn abtauen, könnte man mit dem Schmelzwasser jeden Erdenbürger sechs Jahre lang mit täglich einem Liter Wasser versorgen.

Doch in den vergangenen zehn Jahren zog sich der Riese um bis zu 45 Meter pro Jahr zurück, was Forscher den steigenden Durchschnittstemperaturen zuschreiben. Im Zuge des Klimawandels haben sich die Sorgen der Walliser nun umgekehrt: Schrumpft der Gletscher zu stark und stürzt dadurch ins graue Mittelmaß, könnten die Touristen fernbleiben. Doch das Schmelz-Gelübde zu brechen, das kam auch nicht infrage. In ihrer Not wandten sich die Bewohner von Fiesch erneut an den Papst. Es war noch Benedikt XVI., der ihnen offiziell seinen Segen erteilte. Ergebnis: Die Fiescher beten weiter.

Künftig aber dafür, dass der Gletscher nicht weiter abschmilzt.

(RP)
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