Japan Frische Luft und Kirschblüten gegen den Kulturschock
Wer die japanische Großstadt Kyoto mit dem Fahrrad erkundet, kommt dem Wesen der alten Kaiserstadt näher – zumindest ein Stückchen.
Seit fünf Tagen waren wir in Japan aus immer anderen Bahnhöfen in immer anderen Städten aufgetaucht. Masako, unsere freundliche, knallharte Reiseleiterin, hatte uns die Attraktionen der Goldenen Route im Schnelldurchlauf ins Gedächtnis gebrannt. Wir hatten die Häusermeere Tokios von der Aussichtsplattform des Wolkenkratzers Shibuya Scramble Square aus betrachtet, in Nara heilige Hirsche gestreichelt, die Metropole Osaka besucht, den heiligen Vulkan Fuji zwischen Wolken ausgemacht und waren ermattet ins heiße Thermalwasser eines Onsen gesunken. Ermöglicht hatte dieses Pensum außer der Disziplin Masakos ein effizientes Bahnnetz, unterstützt von einer Eigenleistung in Form von täglich zehn bis zwölf zu Fuß zurückgelegten Kilometern.
Zuletzt hatte uns der Hochgeschwindigkeitszug in Kyoto ausgespuckt: der Stadt von Tempeln, Teehäusern, Traditionen und – Fahrrädern. Fahrräder! Sie versprechen Frischluftzufuhr, ruhiges Tempo und Sightseeing im Sitzen – unwiderstehlich. Gleich um die Ecke vom Bahnhof stehen sie für Touren bereit. Kitty, die eigentlich Atsuko Hori heißt und seit 2015 als Bike-Guide beruflich radelt, lotst ihre Gäste von hier aus durch ruhige Wohnviertel zum Takase-Kanal im Stadtviertel Shimogyo-ku.
Den ersten Stopp widmet sie einem Geschichtsbriefing. Kitty skizziert die Stationen Kyotos von der Kaiserstadt ab dem späten 8. Jahrhundert über die Ära der Samurai ab 1603 und die Verlegung des Kaisersitzes ins heutige Tokio im Jahr 1868 bis ins merkantil geprägte 20. Jahrhundert. Drei Ecken weiter hatte von 1930 bis 1959 jene Manufaktur für Spielkarten ihr Hauptquartier, die als Nintendo zum Synonym für Unterhaltungselektronik werden sollte. Der heutige Unternehmenssitz liegt im Süden der Stadt, der alte Bau beherbergt ein Boutique-Hotel.
Allen Geheimnissen Japans zum Trotz besitzen Ampeln und andere Übereinkünfte im Straßenverkehr auch hier Gültigkeit – wenn man von Kreuzungen absieht, die nicht nur in vier Richtungen zu queren sind, sondern auch diagonal. „Kyoto ist durch schachbrettartig angelegte Straßen für Ausländer leicht zu navigieren“, sagt Maiko Sakurai vom Tourismusverband der Stadt. Allerdings müsse das 50 Kilometer umfassende Radwegnetz ausgebaut werden, und hohes Autoaufkommen mache Radlern das Leben schwer. Tatsächlich säumen Radwege fast alle Straßen im Zentrum, und auch die Rücksichtnahme der Verkehrsteilnehmer erleichtert das Radeln in der anderthalb Millionen-Einwohner-Stadt. Üblich ist es außerdem: 40 Unis und Hochschulen stellen eine große Gruppe Menschen, die sich fürs Fahrrad entscheiden.
Gewöhnungsbedürftig bleibt nur der Linksverkehr. Vogelstimmen mischen sich in das Zwitschern der Ampeln. Hinter dem Kennin-ji, dem ältesten Zen-Tempel der Stadt, wo in Königsblau gewandete Polizisten den Verkehr regeln, liegt das für seine historischen Bauten und die Geisha-Kultur berühmte Viertel Gion.
Am kleinen Tatsumi-Schrein, neben dem junge Paare auf einer Brücke für ihre Verlobungsfotos in Kimono und traditioneller Gewandung posieren, steigen wir ab. Ein Gott der Künste ist hier eingeschreint, weshalb Geikos und Maikos sich im Vorübergehen stets verneigen. Kitty erklärt die Unterschiede zwischen Geikos, wie die Profi-Gastgeberinnen im Kyoter Akzent heißen, und Maikos, ihren Schülerinnen.
Beim nächsten Halt am Ufer des Kanals Shirakawa versorgt Kitty uns bei einer Straßenbäckerei mit Reiskuchen, die dank Füllungen aus Esskastanien, Süßkartoffeln oder roten Bohnen Energie für viele Kilometer spenden. Wir queren den Fluss Kamogawa, passieren das Kunstmuseum, vor dem sich wie an den Schreinen im Laufe des Sonntagvormittags immer mehr Menschen einfinden, und fahren ein Stück am Fluss entlang. Im Frühling säumen zartrosafarbene Kirschblütenfluten seine Ufer. Jetzt bevölkern Radfahrer, Jogger und Flaneure den Uferweg, auf einem Schilf-Inselchen im Flussbett landen anmutig zwei Silberreiher.
Flussaufwärts erheben sich Berge – ein friedliches Bild. Doch Kitty weiß, dass es noch besser wird, und lenkt uns zum alten Kaiserpalast im Gyoen Nationalgarten. Einmal mehr lassen wir die Räder stehen, ohne einen Blick zurück zu werfen. Fahrraddiebstahl scheint in Kyoto ein unbekanntes Phänomen zu sein. Kitty berichtet, wie der Park verfiel, nachdem der Sitz des Kaisers 1869 nach Edo verlegt wurde; wie der Kaiser acht Jahre später zu einem Besuch zurückkehrte; wie er angesichts von Verwilderung und Verfall zutiefst verstört war und die Restaurierung von Palast und Gärten anordnete. Heute ist der 65 Hektar große Park eine Sinfonie aus 50.000 Bäumen und 500 Pflanzenarten, darunter uralte Pinien, Fichten und Ginkgos, aber auch eine seltene Variante des Weißen Löwenzahns. Sogar Habichte und Fichtenkauze kommen hier vor.
Winterkirschen haben nach milden, sonnigen Tagen eine erste Blüte gewagt und setzen einen Hauch zarten Rosas in die letzten flammenden Herbstfarben. Durch den Park und am Palast vorbei fahren wir zurück in Richtung Bahnhof – durchgelüftet und erfüllt von neuer Neigung zur alten Stadt.