Kunst statt Kriminalität Rios Slumviertel als Touristen-Attraktion

Rio de Janeiro · Lange galt Santa Marta als berüchtigtster Stadtteil von Rio de Janeiro, eine Brutstätte der Gewalt und Drogenkriminalität. Straßengangs diktierten das Gesetz. Nur mit Waffengewalt gelang es der brasilianischen Polizei, das Viertel zurückzuerobern. Jetzt sollen Künstler dabei helfen, aus dem Slum einen Publikumsmagneten zu machen.

Bunte Farben für Rios Slums
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Bunte Farben für Rios Slums

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Foto: HASH(0x2100ce58)

Der Tod würde einfach übermalt: "Hier sind früher Menschen erschossen worden", sagt Sergio Castro und deutet auf die bunte Wand. "Ihr könnt die Einschusslöcher noch erkennen." Doch die einst graue Mauer im Armenviertel Santa Marta ist längst zu einem kunterbunten Kunstwerk geworden. Hier, am nahezu höchsten Punkt in der Favela der Millionen-Metropole Rio de Janeiro, beginnt der Versuch der brasilianischen Regierung, den Touristen in der künftigen Olympiastadt die Angst zu nehmen.

Michael Jackson hat hier einen Video-Clip gedreht, auch ein Energydrink-Hersteller aus Österreich hat die Kulisse für einen Bike-Wettbewerb genutzt: Santa Marta hat in der Vergangenheit immer wieder als schaurig-schöne Kulisse für spektakuläre Marketing-Aktionen gedient. Doch Stars wie der "King of Pop" kommen nur für einige Stunden und werden dabei auch noch von Heerscharen von Sicherheitskräften begleitet. Der Rest der Welt hat bislang kaum einen Fuß in diese Gegenden gesetzt.

Vor ein paar Wochen kam Brasiliens damaliger Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva persönlich hierher, um ein ehrgeiziges Projekt zu unterstützen: Die sogenannte "Rio Top Tour" soll Touristen in das bislang verschriene Viertel locken. "Favelas sind ganz normale Stadtviertel wie andere auch", sagte Lula und ließ sich bereitwillig mit Einwohnern des Slums ablichten. Einige von ihnen werden künftig als Touristenführer arbeiten, so steht es zumindest im Konzept. Auch das ist auf buntem Papier gedruckt.

Für 30 Euro durch die Favela

Touristenführer Sergio Castro ist schon im Dienst. Mit einem offenen, grünen Jeep holt er die Besucher, die für umgerechnet rund 30 Euro die Tour buchen, aus ihren Hotels ab. Wer will, kann das Viertel aber auch auf eigene Faust erkunden, kostenfrei. Keine 30 Minuten später steht Castro mit seinen Gästen an der bunten Mauer, die dem ganzen Projekt als visuelles Erkennungsmerkmal dient. Ihnen zu Füßen liegt Santa Marta. Sofort macht Castro klar, dass er von dem Begriff "Favela-Tour" nichts hält. "Ich nenne es vielmehr eine soziale Erfahrung. Sie tauchen ein in eine Gesellschaft, die sie normalerweise nie kennenlernen würden."

Santa Marta galt als eine der gewalttätigsten Favelas in Rio. Hier lieferten sich Jugendgangs blutige Machtkämpfe um die Vorherrschaft. Fehden zwischen den Banden endeten oft an der einst grauen und jetzt bunt angepinselten Mauer. Schmale, steile Treppen führen die Besucher nach unten. Mit jedem Schritt löst sich die Anspannung, nach jeder gemeisterten Treppenstufe wächst der Wohlfühlfaktor. Denn Santa Marta ist mittlerweile eine Vorzeige-Favela, eine Armensiedlung zum Anfassen.

"Das Konzept ist so ausgelegt, dass die Bewohner sich einbringen. Sie sind die eigentlichen Stars, denn plötzlich erweisen sie sich als liebenswerteste Menschen", erklärt Castro mit einem Augenzwinkern. Haus für Haus erfährt in der Siedlung nun eine Verwandlung. "Wir reißen eine baufällige Hütte ab und ersetzen sie durch ein neues, bewohnbares Haus", erklärt Castro in lupenreinem Englisch. Dieser architektonische Flickenteppich hat seinen optischen Reiz. Funktionierende Abwasserleitungen und stinkende Kloaken sind oft nur wenige Meter voneinander getrennt.

Drehort für Michael-Jackon-Clip

Das Pilotprojekt soll vier Jahre vor der Fußball-Weltmeisterschaft und sechs Jahre vor den Olympischen Spielen helfen, den internationalen Gästen die angesichts der Gewaltausbrüche in der Vergangenheit keineswegs unbegründeten Berührungsängste vor den brasilianischen Slums zu nehmen.

Bunte Hinweisschilder führen die Touristen nun zu den interessanten Plätzen, so zum Beispiel zum "Espaco Michael Jackson", wo der Popstar einen Video-Clip zu seinem Song Song "They don't care about us" (Wir sind ihnen egal) drehte und Favela-Besucher als Komparsen dienten. "Schauen Sie sich das Video im Internet an, dann sehen Sie, wie sich hier alles verändert hat", ermuntert Castro seine Zuhörer. Eine Eisenskulptur zeigt Jackson just an der Stelle, wo der Milliardär in dem Song einst angeblich sein soziales Gewissen entdeckte. So schnell er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Geblieben ist neben der Skulptur auch noch ein überlebensgroßes Mosaik. Jackos Besuch war wohl der Hauptgrund, warum Rio sich für Santa Marta als Ort des sozialen Experiments entschied. Seine Prominenz dient wie eine kostenlose "Anschubfinanzierung".

Aber auch Samba-Schulen, Kunst-Werkstätten und ein Aussichtspunkt, von dem die Gäste einen atemberaubenden Blick über Rio de Janeiro genießen können, gehören zum Touristenpfad. Santa Marta ist zur Brutstätte einer neuen kulturellen Szene geworden. Hip- Hop-Klänge dröhnen ebenso aus den Hinterhöfen wie der in Brasilien unvermeidliche Samba. Einige Künstler suchen in der Gemeinde eine inspirierende Bleibe.

Knallbunte Hausfassaden

Besonders spektakulär sind aber die bunten Häuser in Santa Marta. "Diese Art von Kunst kann einen farbenfrohen Unterschied im Leben der Menschen, dem Viertel und ganz Rio machen. Sie besitzt das Potential, wie ein Katalysator in einem Prozess der sozialen Erneuerung und des Wandels zu wirken", erklärt Dre Urhahn. Er ist einer der Künstler, die bereits vor Jahren mit dem Projekt "Favela Painting" begannen und so den sozialen Wandel in Santa Marta vorantrieben.

Rund 25 Jugendliche aus dem Viertel wurden als Maler ausgebildet. Ihre Aufgabe: Die Verwandlung der tristen Nachbarschaft in ein farbenfrohes Gesamtkunstwerk. Dre Urhahn: "Wir haben dies bereits in früheren Projekten erfolgreich umgesetzt. Das Viertel gewinnt dadurch Arbeitsplätze, Stolz und Farbe." In Eigenregie haben danach viele Bewohner, unterstützt von Spendern aus aller Welt, ihre grauen, einfachen Häuser angemalt. Herausgekommen ist eine kunterbunte Fassade, die Lebenslust und Freude signalisiert. "Früher haben sich die Menschen geschämt, wenn sie sagen mussten, dass sie aus Santa Marta stammen. Jetzt sind sie stolz darauf", erklärt Castro.

Fast alle Touristen bleiben vor der farbenfrohen Fassade stehen und knipsen, was das Zeug hält. Das Vorhaben, Santa Marta touristisch zu erschließen, ist nur eine von vielen Maßnahmen, mit denen sich Rio de Janeiro von seinem gewalttätigen Image lösen will. Als vor einigen Monaten die Bilder um die Welt gingen, wie eine schwer bewaffnete Jugendbande den Abschuss eines Polizei-Hubschraubers feierte, läuteten in der Stadtverwaltung von Rio und im Büro des Staatspräsidenten die Alarmglocken. Der Weltfußballverband Fifa und das Internationalen Olympische Komitee mahnten, Brasilien solle schleunigst an einem Sicherheitskonzept arbeiten.

Vorher räumte die Polizei hier auf

Freilich: Die spektakuläre Verwandlung von Santa Marta in ein Vorzeigeviertel wäre wohl nicht möglich gewesen ohne einige höchst umstrittene Polizei-Operationen. Bevor die Touristen in die engen Gassen von Santa Marta gelassen werden konnten, haben die brasilianischen Sicherheitskräfte das Viertel von brutalen Drogen- und Jugendbanden gesäubert.

Spezialeinheiten durchkämmten die Viertel gezielt nach den Anführern der kriminellen Banden. Waren diese trotz Vorwarnung nicht verschwunden, kam es oft zu blutigen Schießereien. Fast immer bedeuteten die Feuergefechte das Ende der "Bosse". Menschenrechtler rauften sich zwar die Haare, aber die von der Kriminalität betroffenen Bürger schauten lieber weg. Nicht wenige sind erleichtert über die radikalen Säuberungen.

Die Kriminalität in Rio ist allerdings noch lange nicht besiegt. Täglich gibt es in den über das ganze Stadtgebiet verteilten Armenvierteln Schießereien, Messerstechereien, Tote und Verletzte. Doch Bedenken wischt Tourismus-Minister Luiz Barreto beiseite: "Rio de Janeiro sollte nicht nur wegen seiner Christus-Statue, des Karnevals und seiner Strände Copacabana und Ipanema wegen bekannt sein. Es gibt auch unsere wunderschönen Berghänge und die Hügel, von denen man eine atemberaubende Aussicht genießen kann!"

Die Bewohner von Santa Marta jedenfalls schienen sich zu freuen über den Besuch von Lula. "Wer hierher kommt, der wird feststellen, dass es hier Frieden gibt und dass die Menschen einen Besuch wert sind", schwärmte Brasiliens Polit-Ikone.

Infos Rio de Janeiro

Rio de Janeiro ist mit mehr als sechs Millionen Einwohnern nach São Paulo die zweitgrößte Stadt und zweitwichtigstes Handels- und Finanzzentrum Brasiliens. Bis 1960 war Rio die Hauptstadt Brasiliens, bis die Funktion von der Reißbrettstadt Brasília übernommen wurde. Die Kriminalität in Rio ist zuletzt deutlich zurückgegangen. So hat sich die Mordrate von 60 Personen pro 100.000 Einwohner im Jahr 2002 seither fast halbiert (Deutschland 1/100.000 Einwohner). Die Aufklärungsquote liegt jedoch nach Schätzungen weiter bei nur einem Prozent.

(RP)
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