Ladakh Einsam im indischen Himalaya

Leh · Indien wird in wenigen Jahren das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. Im rauen Norden des Landes, hinter der ersten Himalaya-Kette, ist davon nichts zu spüren. Wer hier wandert, braucht schnittfeste Sohlen, einen dicken Schlafsack und viele Ponys.

Wandern im indischen Himalaya-Gebirge
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Wandern im indischen Himalaya-Gebirge

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Foto: dpa, pla

Langsam bewegt sich die Karawane aus deutschen Wanderern, Tourenführer, Köchen, Helfern und Ponys auf einem Zick-Zack-Pfad zum 4430 Meter hohen Kiupa-Pass im Himalaya hinauf. Die nächste holprige Straße in dieser weltentlegenen Ecke Indiens liegt wahlweise fünf Tagesmärsche Richtung Süden oder zwei Richtung Norden. Die Bergrücken hier, sagt einer aus der Gruppe, sähen aus wie die Zacken eines Drachen.

Ladakh ganz im Norden Indiens ist ein karger Landstrich. Sowohl landschaftlich als auch kulturell gehört er eher zu Tibet als zum tropischen Südindien oder den Zig-Millionen-Metropolen wie Mumbai, Kalkutta und Delhi. Bäume gibt es in vielen Tälern Ladakhs nicht, deswegen müssen die Bewohner Baumaterial oft tagelang heranschleppen. Daraus bauen sie ihre meist zweistöckigen Häuser: Holzgebälk, Lehmziegel, Reisig auf dem Dach, weiß getüncht. Unten die Tiere, oben die Menschen. Manche Dörfer haben keine Straßen- und Stromanbindung. Auf dem Flachdach blitzt an vielen Orten ein Solarkocher - oft von einer Hilfsorganisation in bester Absicht geschenkt und doch unbenutzt, weil die Frauen lieber traditionell mit Viehdung kochen.

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Foto: Pete Niesen /Shutterstock.com

Doch die Moderne kommt, meist in Form von großrädrigen Baggern mit gewaltigen Schaufeln, die sich in die Hänge hineinfressen. Kilometer um Kilometer werden jedes Jahr neue Straßen in die unwirtlichen Himalaya-Berge Indiens gebaut. Die bei Wanderern aus aller Welt beliebte Durchquerung des Zanskar-Gebirges dauerte einst drei Wochen. Nun ist es möglich, auf beiden Seiten und zwischendurch einige Tage mit dem Jeep zu verkürzen. Wer das nicht will, kann stattdessen von West nach Ost laufen, zum Beispiel auf der 18-tägigen Schluchtenwanderung von Rangdum über Lingshed und Zangla bis nach Shang Sumdo.

Bevor der erste Schritt geschafft ist, sind einige Herausforderungen zu meistern. Zum Beispiel die Akklimatisierung, denn das regionale Zentrum Leh liegt auf rund 3500 Metern. Ein Aufstieg zur Shanti-Stupa etwas oberhalb der Stadt fühlt sich für frisch Angekommene an wie eine Bergbesteigung in den Alpen. Viele bleiben alle paar Stufen stehen, um nach Atem zu schnappen - und den Blick über das bizarre ocker-gelbe Gebirge mit seinen grünen Tälern streifen zu lassen.

Am Hang gegenüber der Shanti-Stupa liegt der Königspalast des Löwenkönigs Sengge Namgyal, dem Potala-Palast in Lhasa nachempfunden. Der neunstöckige Leh-Palast mit seinen 100 Zimmern ist viel kleiner als das große Vorbild. 1843 musste die Königsfamilie nach ihrer Entmachtung umziehen, und über lange Zeit lebten nur noch Krähen darin - bis vor einigen Jahren die Restaurierung begann.

Der tibetische Buddhismus ist in Ladakh überall präsent: Gebetsfahnen wehen im Wind, in den Tälern stehen Stupas und Chörten, wie die Schreine hier heißen. Oben auf den Pässen haben die Menschen aus verzierten Steinen Mauern gebaut, um den Göttern der Berge zu huldigen. Das bekannte Mantra "Om Mani Padme Hum" steht darauf: "Oh Du Juwel in der Lotusblüte".

Von Leh zum Startpunkt der Wanderung braucht der Geländewagen zwei Tage. Die Fahrt ist holprig und oft haarscharf am Abgrund entlang. In den niedrigeren Regionen hocken Frauen auf goldgelben Gerste-Feldern und schneiden die Halme mit ihren Sicheln. Weiter oben schlängeln sich Gletscher bis nah an die Straße heran.

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"Juley, Hallo, Guten Tag", grüßt schließlich das Team in einer Flussebene in Rangdum, dem Ausgangspunkt der Wanderung. Neben den Zelten grasen Ponys und Maultiere. Statt auf Träger setzen viele Organisatoren von Trekkingtouren in Ladakh auf die Lasttiere, die selbst am Hang im losen scharfkantigen Schutt, auf heimtückischen Steinen im Fluss und zwischen Hasenlöchern sicheren Tritt finden.

Elf Tiere sind nötig, um alles Notwendige für die Vierergruppe aus Deutschland zu tragen: fünf Gaszylinder, Essens-, Koch- und Klozelt, Schlafzelte, Mehl für Kuchen, Pizza und Fladenbrote, Gemüse für Currys und Kürbissuppe, Milchpulver und ein Gemisch aus Soja, Kichererbsen und Gerste für die Tiere. Hinzu kommen die Rucksäcke und dicke Schaumstoffmatten. Rund 50 Kilogramm schleppt jedes Lasttier.

Noch unerschrockener als die Maultiere sind in den Bergen nur Yaks sowie Chopas, eine Mischung aus Yak und Rind. Schon am ersten Tag lassen sich die gewaltigen Zotteltiere blicken. Sie trotten auf ihren eigenen Routen durch das Gebirge - und halten auf ihren Wegen nur kurz inne, um die Neulinge auf zwei Beinen zu begutachten.

Am Oberlauf des Flusses Oma Chu steht eine Lehmhütte, in der drei runzelige Yak-Hirten den Sommer verbringen. Sie melken die Tiere, bereiten aus der Milch Butter zu und senden diese auf Yak-Rücken hinunter in die Zivilisation - teils bis nach Dharamsala, wo der Dalai Lama das Fett für seine Butterlampen verwendet. Vorbeikommende Wanderer bekommen aus großen Holzfässern so viel Joghurt geschöpft, wie sie trinken können.

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Foto: dpa, Tourism Council of Bhutan

Die zusätzliche Energie ist nötig, denn die Schluchtenwanderung macht ihrem Namen schon auf den ersten Abschnitten alle Ehre. Es geht von einem Flusstal auf 4010 Metern über einen Pass auf 5020 Metern, dann hinunter in Schluchten auf rund 4000 Metern, wieder über einen 4700 Meter hohen Pass, hinein in die nächste Schlucht, und so weiter. Nach wenigen Tagen zählt niemand in der Gruppe mehr die Höhenmeter. Zwischendrin müssen alle über die Flüsse und Bäche - manchmal von Stein zu Stein springend, manchmal watend. Ab und an hilft nur noch ein Seil, wenn das Wasser zu tief und gefährlich wird.

Am Wegesrand huschen die Wildtiere davon: dicke Murmeltiere, kleine graue Kaninchen, blaue Schafe, Bergantilopen und Eidechsen mit orangenen Halsflecken. In der Luft kreisen Adler, Bergdohlen und Falken, während die Berghühner eher hüpfen als fliegen. Raubtiere tauchen nur in Form von Abdrücken im Schlamm und Kratzspuren im Gras auf. Einmal entdeckt der Guide Nil den Kot eines Bären.

Hinter Lingshed führt der Weg einen knappen Tag lang entlang des bei Touristen beliebten Zanskar-Treks. An anderen Stellen hingegen ist die Schluchtentour so wenig begangen, dass der Weg verschüttet ist und neu gelegt werden muss. Einmal irrt sich der Guide, und die Ponys brechen durch eine Schneedecke über einem Fluss ein und müssen herausgezogen werden.

Die höchste Nacht der Tour verbringt die Gruppe auf 4700 Metern. Am Morgen bedeckt den See vor den Zelten eine Eisschicht. Trotzdem zaubert der Koch Niri Tamang mit seinen Söhnen eine Suppe, die er im Kürbis serviert. Dazu reicht er den indischen Snack Papadam; dann kommen Kartoffeltaschen mit frittiertem Blumenkohl und Spinat auf den Tisch, eine dick belegte Gemüsepizza und am Ende eingekochtes Obst.

Einer der niedrigsten Punkte der Wanderung ist ein Canyon, dessen Wände sich so sehr neigen, dass sie sich an einem Punkt oben sogar berühren. Die Pferde müssen entladen werden, um überhaupt durch das Bachbett stolpern zu können. Das bedeutet für Guide, Koch, Pferdemänner und Helfer, dass sie die schweren Säcke selbst über die heimtückischsten Stellen tragen müssen - mit Stricken an der Stirn.

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"Unglaublich, was die Männer und Pferde auf sich nehmen, damit wir die Berge genießen können", sagt eine aus der Gruppe, und spricht damit aus, was alle denken. Doch anders lässt sich in dieser Region kaum wandern. Bewirtete Hütten wie in den Alpen gibt es nicht; und die Dörfer liegen so weit auseinander, dass eine Tour mit Übernachten bei den Bewohnern der Region nicht funktionieren würde.

Immer wieder gehen in dieser menschenleeren Gegend Erdrutsche ab und machen die Pfade unpassierbar. Einmal sitzt die Gruppe am Ende eines langen Tages mit Tee vor dem Zelt, als eine riesige Staubwolke über dem Tal aufsteigt, aus dem sie eine Stunde vorher herausgestiegen waren. Ein beklemmendes Gefühl.

Wie zur Wiedergutmachung für den Schock bekommt die Gruppe am Tag darauf ein besonderes Geschenk. In Zangla, einst Königssitz, steht das vielleicht einzige Nonnenkloster Ladakhs. Nam Tiki dort soll 101 Jahre alt sein. Die alte Frau huscht in die Küche und gibt den Wanderern ein paar Fladenbrote mit auf den Weg.

Der letzte Pass auf der Tour, der Kongmaru La, ist mit 5260 Metern der höchste - und der einfachste. Niemand aus der Gruppe hat mehr Schmerzen oder Blasen, die Muskeln haben sich an die Anstrengungen gewöhnt. Unter den Gebetsfahnen auf dem Pass fallen sich alle in die Arme. Der Gruppenälteste blickt auf die vergangenen 17 Tage zurück: "Jeden Tag eine Überraschung, mit vielen Extremen: Wind, Sonne, Kälte, Wasser. Ein echtes Abenteuer."

(dpa)
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