Tirol Wo die Milch ins Tal fließt

Die schlauen Bauern vom Pitztal haben eine Pipeline entwickelt, die die Milch aus einer Höhe von 2000 Metern direkt ins Bergdorf Jerzens transportiert.

Es ist kurz vor 16 Uhr. Zeit für das Milchvieh der Tanzalm, allmählich in den Stall zu kommen. Hirte Mario und Beihirte Dominik sind gerade dabei, ihre Kühe einzusammeln. Wanderer stehen am Gatter und schauen zu, wie die beiden Jungs es schaffen, fast schon liebevoll ihre mehr als 60 Kühe in den Stall zu treiben. Eine Braungefleckte ist störrisch. Sie möchte lieber noch auf der Weide bleiben. Andere können es kaum abwarten, gemolken zu werden. "Jede Kuh hat ihren eigenen Charakter", sagt Mario. "Das ist wie bei den Menschen. Es ist nicht gut, wenn sie miteinander streiten." Nur eine glückliche Kuh gibt reichlich Milch. Heute sind es insgesamt 700 Liter.

Alles fließt. Auch die Milch. Wenn Hirte Mario am Abend den Hahn aufdreht, kommt sie 36 Minuten später im Tal an. Statt nach dem Melken mit vollen Kannen beschwerliche Forstwege hinunter zu fahren, schickt er die Milch per Pipeline zur Sammelstelle ins Bergdorf Jerzens. Sozusagen im Handumdrehen. Die Tanzalm im Pitztaler Hochzeigergebiet ist die einzige Alm in Tirol und vielleicht sogar im gesamten Alpenraum, wo's funktioniert. Und zwar seit 1958. Damals wagten die schlauen Bauern den Versuch - und verlegten unterirdisch eine Art riesigen Gartenschlauch.

Die Milch fließt sozusagen unter den wenigen Wanderern hindurch, die am Hochzeiger unterwegs sind. Wer sich zur Quelle aufmachen möchte, erreicht die knapp 2000 Meter hoch gelegene Tanzalm in zwei Stunden - und wird oben mit einem gigantischen Blick auf die Kaunergruppe bis hinüber zum Arlberg belohnt - Einsamkeit inklusive. Das Pitztal misst nur 40 Kilometer, dann ist Schluss. Eine einzige Straße führt hinauf. Links und rechts ragen Berge steil auf. Wasserfälle stürzen senkrecht in die Tiefe. Das Tal gilt als eines der schönsten und wildesten Seitentäler der Ostalpen, fast schon versteckt liegt es zwischen Ötztal und Kaunertal. Seine abgeschiedenen Orte gleichen sich hinsichtlich des Angebots auf charmante Weise: Kirche, Gasthaus, Bauernhäuser, Ruhe. Hier gibt die Natur noch den Ton an.

Hirte Mario wohnt direkt neben dem Stall im Berggasthof Tanzalm, den seine Familie gepachtet hat. Bevor er auf Kühe umsattelte, hat der 24-Jährige hier gekellnert und Gäste mit Kasknödelsuppe, Tiroler Jause und köstlichem Kaiserschmarrn verwöhnt. Als der bisherige Hirte vor zwei Jahren in den Ruhestand ging, ergriff Mario die Gelegenheit: Gemeinsam mit seinem Kollegen 26-jährigen Dominik genießt er seitdem das selbstbestimmte Hirtendasein. "Das taugt mir hier", sagt er und schiebt seinen Filzhut nach hinten, an dem eine Adlerfeder steckt. Dank Pipeline kann er es dabei viel ruhiger angehen lassen als seine Großmutter, die hier in den 1950er Jahren die Milch noch zu Käse und Butter verarbeiten musste.

"Bloß kein Stress", lautet ohnehin als Motto. Denn wenn die Kühe hektisch werden, flockt die Milch aus und das gilt es tunlichst zu vermeiden, erzählt Mario, als er sich kurz in die Sonne auf eine Bank vor der Alm zur Brotzeit setzt. So kümmern sich die Hirten mit viel Fingerspitzengefühl um die 61 Kühe, die ihnen die Bauern zur Sommerfrische gebracht haben. "Sanfter Druck reicht völlig aus", erklärt Dominik, der alle Kühe mit dem Kosenamen "Mause" ruft und ein wenig stolz darauf ist, dass die meisten schon nach wenigen Tagen auf der Alm eigenständig den für sie vorgesehenen Platz im Stall ansteuern.

Die 700 Liter werden über die Rohmelkanlage in den Tank gepumpt und von Kuh-Körpertemperatur auf vier Grad Celsius herunter gekühlt. Andernorts stehen jetzt Transport oder alternativ Käse- und Butterproduktion auf dem Programm. Auf der Tanzalm dagegen lassen die Hirten den Dingen ihren Lauf. Vorher muss Mario aber noch Schläuche umstecken. Denn durch die drei Kilometer lange Pipeline rinnt permanent frisches Bergquellwasser. Das hält die Leitung sauber. Der Schlauch besteht aus Kunststoff, der geschweißt werden kann. Zwei Schaumstoff-Pfropfen werden zum Trocknen der Innenwände hinterhergeschickt - schließlich soll sich die Qualitätsmilch nicht mit Wasser mischen. 36 Minuten später kommen die beiden Ausputzer bei Ehrentraud Finelli in der Milchsammelstelle an. Für sie das Signal, dass gleich die frische Milch kommt und sie ihr Schlauchende mit dem Milchtank verbinden muss.

Wenn die Bewohner mit ihren Milchkannen eintrudeln, kann Ehrentraud aus dem Vollen schöpfen. "Früher haben auch die Hoteliers bei uns geholt - aber heute darf Rohmilch nur noch für den Privatgebrauch verwendet werden", sagt die 68-Jährige, die im Dorf geboren und aufgewachsen ist und selbst keinen Schluck Milch trinkt. Eiweiß-Unverträglichkeit. "Vermutlich bin ich deshalb die beste Mitarbeiterin. Alle wissen, dass ich mir keine Milch abzapfe," sagt die zierliche Dame und lacht. Seit zehn Jahren macht sie den Job. Sieben Tage die Woche. Immer um 19.30 Uhr sitzt sie in der ehemaligen Getreidemühle, einem historischen Bau aus dem Jahr 1862, und wartet, bis Wasser zu Milch wird. Mit dem Jungenhirten Mario ist Ehrentraut glücklich: "Der ist zuverlässig." Im Gegensatz zum Vorgänger: "Der Toni, der Alte, der war manchmal betrunken und hat dann vergessen, abends nach dem Melken die Milch ins Tal loszulassen." Ehrentraut bedauert, dass nur ein geringer Teil der Milch im Tal bleibt, das meiste holt die Molkerei. Sie war es auch, die einst den Anreiz zum Pipelinebau gab. Denn in den 1950er Jahren fehlte während der Almsaison schlicht der Rohstoff zur weiteren Veredelung. Was lag näher, als den Bauern den Milchtransport ins Tal schmackhaft zu machen?

Die Pipeline hat einen Durchmesser von nur neun Millimetern. Das klingt zwar lächerlich wenig, ist aber offenbar goldrichtig. Denn eine zu hohe Fließgeschwindigkeit würde dazu führen, dass sich Eiweiße und Fette trennen - oder salopp: dass unten Buttermilch rauskommt. "Alle 150 Meter sind zudem Schlaufen eingebaut, die aussehen wie Dreier-Loopings, damit das Tempo gebremst wird", sagt Ehrentraut. Warum die Pipeline nur im Pitztal wirklich funktioniert? "Andernorts gab es häufig Probleme mit der Hygiene", sagt Ehrentraut und betont, dass im Schlauchinneren nicht der geringste Widerstand sein darf, weil sich sonst Bakterien festsetzen. Bleibt zu folgern, dass die Bauern der Tanzalpe offenbar sehr präzise waren, als sie den Schlauch verlegt und die Teile verbunden haben. Eine echte Errungenschaft für die Bauern.

(RP)
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