Estland Lieder, Bernstein und Braunbären

Wo die Vergangenheit auf die Moderne trifft: In Estland wird Geschichte lebendig. Aber jenseits historischer Gebäude beginnt die Wildnis.

 Buntes Treiben auf dem Marktplatz von Tallinn

Buntes Treiben auf dem Marktplatz von Tallinn

Foto: Rainer Hamberger

Es riecht sehr intensiv. Doch die Auswahl in der Fischhalle beim Markt von Tallinn ist überwältigend: Lachs, Forellen, Austern, Knurrhähne, Krabben; die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen. Hier deckt man sich als Feinschmecker mit Spezialitäten wie etwa mit Kaviar ein. An Obst- und Gemüse-Ständen im Freien wird es farbiger und ebenso vielfältig. Jahreszeitlich entsprechend werden Pfifferlinge, Blaubeeren, Preiselbeeren und Cranberries angeboten. Richtig interessant wird es ein Stockwerk höher, wo eine illustre Auswahl an „Antiquitäten“ zum Verkauf steht. Allein zum Stöbern sollten Besucher genügend Zeit mitbringen.

Gar nicht antiquiert geht es in Telliskivi zu. Der einst graue Stadtteil hinter dem Bahnhof hat in ausgedienten Fabrikhallen Raum für junge kreative Künstler und eine ausgesuchte Gastronomie geschaffen. Bunte Wandgemälde geben alten Gemäuern ein neues Gesicht. Individuelle Boutiquen präsentieren Kunsthandwerk. Egal, ob es sich um Arbeiten in Holz oder um Kleidungsstücke handelt: grundsätzlich ist hier skandinavisches Design Vorbild für schlichte, elegante Formen, denen edle Materialien eine besondere Note verleihen.

Die estnische Hauptstadt mit etwa 427.000 Einwohnern beherbergt vielerlei Attraktionen. Unverkennbar ist auch der ehemals russische Einfluss mit der orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale. Auf dem Rathausplatz, im Herzen der Altstadt, herrscht emsiges Treiben. Ein in mittelalterliche Gewänder gekleidetes Mädchen verkauft gebrannte Mandeln. Das Restaurant „Olde Hansa“ lädt zu traditionellen Gerichten ein. Alte Kaufmanns-Häuser erzählen die Geschichte des damaligen Wohlstands als Hansestadt. Eindrucksvoll sind all die wehrhaften Türme, welche vom Domplatz über der Stadt besonders gut zu sehen sind. Erwähnenswert auch zahlreiche Andenken-Geschäfte, in denen Bernstein verkauft wird. Diese honigfarbenen Harztropfen werden durch Bearbeitung zu Schmuckstücken. Vor Millionen Jahren darin eingeschlossene Kleinstlebewesen erzählen Naturgeschichte.

Braunbär im Alutaguse Nationalpark: Wer Bären beobachten möchte, sollte mit einem Guide losziehen.

Braunbär im Alutaguse Nationalpark: Wer Bären beobachten möchte, sollte mit einem Guide losziehen.

Foto: Remo Savisaar

„Wissen Sie, wofür Fledermauspulver gut war?“ Die von der Apothekerin Angesprochenen wollen es lieber nicht wissen. In einer Seitenstraße verkauft die älteste Apotheke Europas zwischenzeitlich alle gängigen modernen Heilmittel. Außerdem finden sich dort diverse eingelegte Kuriositäten und Rezepte gegen Unpässlichkeiten. Brot aus Mandeln galt einst als Wundermittel gegen Liebeskummer, und gegen Depressionen hilft angeblich immer noch Panis Martius – das berühmte estnische Marzipan.

Seit 1997 gehört die Altstadt von Tallinn zum Unesco-Weltkulturerbe. Unter anderem wegen des gotischen Rathauses aus dem 13. Jahrhundert, den Gildehäusern, den mit Kopfstein gepflasterten Gässchen und der gut erhaltenen Stadtmauer mit ihren Türmen. Heutzutage ist Tallinn ein begehrtes Tourismusziel. Durch günstige, schnelle Verbindungen von mehreren deutschen Städten aus gelangt man mit Air Baltic meist in weniger als zwei Flugstunden nach Tallinn.

Die Alexander-Newski-Kathedrale

Die Alexander-Newski-Kathedrale

Foto: Rainer Hamberger

Als im Sommer 1988 auf dem Sängerfeld 300.000 Menschen die von der Sowjetunion verbotene Nationalhymne singen, ist das der Anfang der „singenden Revolution“. Die Esten sind ein sangesfreudiges Volk. Wenn sie „Mein Vaterland, mein Glück, meine Freude“, anstimmen, wird verständlich, was diesem Volk seine Freiheit bedeutet.

Eine Veränderung bahnt sich mit dem „Baltischen Weg“ an. Sechshundert Kilometer lang ist die Menschenkette, die am 23. August 1989 durch das gesamte Baltikum verläuft. Eine weitere Stufe zur Unabhängigkeit Estlands. Am 8. Mai 1990 erklärt schließlich der oberste Rat der Estnischen Sowjetischen sozialistischen Republik einseitig erneut seine Souveränität unter der Bezeichnung Republik Estland, die es 1991 zusammen mit Litauen und Lettland durchsetzen kann.

Was für eine Mammutaufgabe für den jungen Staat, neue Organisationsformen in vielen Bereichen einzuführen. Estland gelingt in den letzten Jahrzehnten der Sprung in die Moderne. Seine Versorgung des dünnbesiedelten Landes mit Internet ist in Europa führend. So geht die Erfindung von „Skype“ auf estnische Tüftler zurück. Heute ist das Unterrichtsmaterial an Schulen komplett digitalisiert. Auch die Bezahlung eines Marzipan-Schweins auf dem Marktplatz erfolgt digital.

Jedoch ist Tallinn nicht von technischem Denken dominiert. Die Natur ist allgegenwärtig. Erholung bietet der Kadriorg-Park mit seinen alten Bäumen. Der grüne Vorort entsprang einer Idee Zar Peter I. Neben dem Barockschloss Katharinental befindet sich nicht weit entfernt das 2006 eröffnete neue Estnische Kunstmuseum Kumu, mit einer umfangreichen Sammlung einheimischer Kunst.

Nur eine knappe Fahrstunde von dem mittelalterlichen Städtchen Rakvere im Norden des Landes liegt Estlands jüngstes Naturreservat, der Alutaguse-Nationalpark. Dichte, der russischen Taiga ähnliche Wälder aus Birken und Fichten, sind Heimat unter anderem für Braunbären, Seeadler und Flughörnchen.

Nach vorgegebenen Koordinaten fahren wir zum Treffpunkt im „Bärenwald“ in der Nähe des Örtchens Tudo. Pünktlich, zum vereinbarten Termin, erscheint unser „Guide“, ein wahrer Waldmensch, der nicht viel Worte macht. Nach knapp 20 Minuten Fußweg sind wir an der Unterkunft. „Ihr wisst ja jetzt den Weg zurück. Morgen früh um acht verlasst ihr die Hütte.“ Mit diesen Worten werden wir im Wald allein gelassen. Möglichst leise richten wir Kamera, Verpflegung und warme Kleidung her. Dann beginnt das Warten. Das Licht lässt nach. Dann plötzlich tut sich etwas am anderen Ende der Lichtung. Nur wenige Sekunden ist eine Bärenfamilie erkennbar, bevor sie wieder hinter Bäumen verschwindet. Als wir uns schon enttäuscht aufs harte Nachtlager zurückziehen wollen, tauchen die Vier direkt vor der Hütte auf: eine kräftige Bärin mit Drillingen. Beinahe eine Stunde können wir sie beobachten.

Den Heimweg am nächsten Morgen treten wir mit gemischten Gefühlen an, stets bedacht, genügend Lärm zu machen. Zurück auf Auto- und menschenleeren Straßen können wir nun ahnen, was sich in den dichten Wäldern im Norden Estlands alles verbirgt.

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