"Willkommen in Rocinha" Eine Stadttour durch Rios größten Slum

Rio de Janeiro (RPO). Unübersichtliche Gassen, ein Meer aus Wellblechhütten - so schmiegen sich die Favelas von Rio de Janeiro an die Berghänge. Spätestens seit dem Film "City of God" weiß die Welt, dass ein Menschenleben dort nicht viel wert ist. Doch die Dinge ändern sich. Auf Stadtführungen zeigen die Bewohner Touristen ein neues Bild ihrer Heimat. Das ist nicht gefährlich, so lange man keine Fotos schießt.

Rio de Janeiro - Stadt mit Kontrasten
22 Bilder

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Sie gehören zu Rio de Janeiro wie der Zuckerhut, die Copacabana und die Christus-Erlöser-Statue hoch oben auf dem Corcovado-Berg: die Favelas. Hunderte dieser Armensiedlungen gibt es in Rio. Sie stehen im Ruf, Horte der Gewalt und Heimat der Drogenbosse zu sein, und das ist auch ein Teil der Wahrheit. Aber eben nur ein Teil. Wem Klischees nicht reichen, wer mehr erfahren will über Favelas, Rio und vielleicht über Brasilien, der sollte nicht nur Rios Glitzerviertel Ipanema und Leblon besuchen, sondern auch Rocinha, die vermutlich größte Favela Südamerikas.

"Willkommen in meinem Zuhause", sagt Carlos, als der Touristenbus in Rocinha einfährt. Die Fahrt geht bergauf und durch enge Kurven. Immer wieder rumst das Fahrzeug in tiefe Schlaglöcher. Carlos wurde in Rocinha geboren und wohnt hier immer noch mit seinen Kindern. Er lebt gerne in Rocinha. "Ich will Mythen zerstören", sagt der 46-Jährige.

Atemberaubender Ausblick

Erster Halt: "Estrada da Gávea". Ein Blick hinunter ins satte dichte Grün, zu den Resten des Atlantischen Regenwaldes. Dahinter schimmert azurblau der Atlantik. Rocinha ist berühmt für seinen atemberaubenden Ausblick, immerhin.

"Keine Leute fotografieren", ist eine der wenigen Regeln auf der Tour. "Amigos dos Amigos" heißt die Drogengang, die in Rocinha das Sagen hat, und die Freunde schätzen es nicht, abgelichtet zu werden.

Die Einwohnerzahl der "kleinen Farm", wie Rocinha übersetzt heißt, ist ungewiss. Offizielle Schätzungen reichen bis 100.000 Menschen, die Bewohner selbst sprechen von 160.000. Es gibt zahllose Läden, Verkaufsstände, Bars, mehrere Buslinien und sogar drei Banken. "Die einzige Banken, die nicht überfallen werden", scherzt Carlos.

Meer aus Wellblechdächern

"Rocinha. Bem vindo" steht auf einem Schild, willkommen in Rocinha. Die Favela ist ein schmutziges Meer aus Häusern, wie erkaltete Lavaströme kleben sie am Berghang. Überall braune, unverputzte Backsteinmauern. Abertausende Wellblechdächer mit dicken, blauen Wasserbottichen aus Plastik darauf. Ein Labyrinth aus Treppen, Gassen und Schleichwegen. Jeder Fremde wäre verloren hier.

Früher waren alle Häuser als Holz. Steinbauten lohnten nicht, dachten sich die Bewohner, denn regelmäßig kamen Sondertrupps, um die Ghettos niederzureißen. Erst Mitte der 1980er Jahre gab es Bestandssicherung, die Bewohner fingen an zu mauern.

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der noch bis 1. Januar 2011 im Amt bleibt, war kürzlich in der Vorzeige-Favela Dona Marta, wo er selbst ein Besuchsprogramm für Touristen ankündigte. Die Welt soll sehen, dass Rio, Ausrichter der Olympischen Spiele 2016, sicher ist. Das ist Lulas Botschaft.

Waffen gehören zum Alltag

Doch Favelas wie Vila Cruzeiro sind weiter fest in der Hand der Drogengangs. Polizeitrupps trauen sich nur mit schwerem Gerät hinein. In Cruzeiro wie in Rocinha gibt es zu viele Waffen und zu viele Menschen, die zu wenig zu verlieren haben. Bei einem kurzem Spaziergang über die belebte Straße "Caminho do Boiadeiro" in Rocinha knattert ein junger Mann mit seinem Motorrad durch die Menge. Von der Schulter baumelt lässig ein Schnellfeuergewehr. Ein Bild, bei dem sich kein Bewohner umdreht, nur der Touristengruppe fällt es auf.

Beschaulich geht es dagegen in der Favela Canoas ganz in der Nähe zu, wo die dreistündige Tour endet. Noch einmal geht es auf Tuchfühlung, hinab über Stufen in die Katakomben der Favela. Kleine, enge Gänge führen durch das Labyrinth, kein Sonnenstrahl dringt hier durch. Dort eine Kneipe, hier ein winziger Friseurladen.

Kindergeschrei dröhnt aus einer Wohnung, in der nächsten plärrt ein Fernseher. Platzangst darf man nicht haben in der Favela. Die Tour klingt aus in einer Stehkneipe bei Caipirinha. Und dann geht es zurück in die "Cidade Maravilhosa", die "Wunderbare Stadt", wie Rio genannt wird, und zu der die Favelas untrennbar gehören.

Infos Rio de Janeiro

Reiseziel: Rio de Janeiro hat rund sechs Millionen Einwohner, ist die zweitgrößte Stadt Brasiliens nach São Paulo, bis 1960 Hauptstadt und Ausrichter der Olympischen Sommerspiele 2016.

Anreise: Es gibt Flüge aus mehreren deutschen Städten nach Rio. Deutsche brauchen kein Visum. Bestes Transportmittel der Stadt ist das Taxi. Die U-Bahn ist modern, schnell und billig.

Reisezeit: Im Sommer, also dem Winter in Europa, steigen in Rio die Temperaturen oft über 40 Grad. Der meiste Regen fällt von Dezember bis April. Viele bevorzugen als Reisezeit April bis Oktober mit Temperaturen zwischen 25 und 28 Grad.

Unterkunft: Alles geht - von 45 Euro pro Zimmer und Nacht in einer einfachen Pension bis 500 Euro in Luxushotels in Ipanema oder Leblon.

Informationen: Brasilianisches Fremdenverkehrsamt Embratur (Tel.: 069/96 23 87 33; www.braziltour.com); Touristikamt Rio de Janeiro (www.riodejaneiro-turismo.com.br).

Touranbieter: www.favelatour.com.br.

(tmn/mais)
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