Spiekeroog Immer mit der Ruhe

Spiekeroog ist eine der ostfriesischen Inseln im niedersächsischen Wattenmeer. Hier rollt Deutschlands einzige fahrplanmäßige Pferdebahn.

 Tinker Tamme zieht den Stuttgarter Sommerwagen. Die Museumsbahn fährt stündlich zwischen 13 und 16 Uhr vom Museumsbahnhof zum Westend und zurück.

Tinker Tamme zieht den Stuttgarter Sommerwagen. Die Museumsbahn fährt stündlich zwischen 13 und 16 Uhr vom Museumsbahnhof zum Westend und zurück.

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Tamme lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Vollkommen unaufgeregt verharrt der braun-weiß gescheckte Tinker neben dem offenen Stuttgarter Sommerpferdebahnwagen. Zwei Dutzend kleine und große Passagiere haben auf den hellbrauen Holzbänken Platz genommen. „Pferdeflüsterer“ Christian Roll bimmelt die Glocke. Ganz gemächlich setzen sich Pferd und Karren vom Museumsbahnhof Richtung Westend in Bewegung. Von der Weide neben den Schienen schaut der schwarz-weiße Eddie dem Gespann hinterher. Er hat heute frei.

Spiekeroog ist eine der sieben ostfriesischen Inseln. Sie ist die zweite von rechts – zwischen Wangerooge und Langeoog. Früher befand sich die Siedlung weiter im Westen. Aufgrund von Dünenabbrüchen und Versandung siedelte die Bevölkerung um 1600 dorthin um, wo sich bis heute der Ort befindet. „Spiekeroog hat ungefähr 800 Einwohner und den Bauboom der siebziger Jahre nicht mitgemacht“, informiert Gästeführerin Anja Sander: „Keine Hochhäuser. Keine großen Ferienanlagen. Es ist ein Dorf mit überwiegend roten Backsteinhäusern geblieben.“ Knorrige Eschen, Kastanien und Linden säumen die Straßen. Im Schatten dieser hohen Bäume steht die Alte Inselkirche von 1696.

Nur ein paar Schritte entfernt gewährt das Inselmuseum Einblicke in das frühere Leben der Bewohner. Der über 300 Jahre alte Bau war einst ein Kapitänshaus. Der Museumsverein Spiekeroog betreibt nicht nur die Ausstellung, sondern ist auch Eigentümer der Pferdebahn. Dem Geheimnis des Weltnaturerbes Wattenmeer, der Tier-, Dünen- und Pflanzenwelt kommt man im modernen Nationalpark-Haus Wittbülten im Osten des Eilands auf die Spur.

Die Dorfstraße Norderloog: Dort gibt es einige Ferienunterkünfte.

Die Dorfstraße Norderloog: Dort gibt es einige Ferienunterkünfte.

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Tamme hat inzwischen das Deichschart passiert. Auf den nahen Salzwiesen weiden Islandpferde. 1981 nahm die Museumspferdebahn ihren Betrieb auf historischen Gleisen auf. Fast 100 Jahre zuvor wurde die Schmalspurstrecke eröffnet. „Der Badestrand lag ehemals nicht so nah am Dorf, sondern ganz im Westen“, sagt Dieter Mader, Mitglied des Museumsvereins: „Der Wunsch nach einer Zugverbindung wurde laut. Schließlich führte der 1,7 Kilometer lange Schienenweg von der Ortsmitte bis zum Herrenstrand. Damen stiegen früher aus, um über den „Damenpad“ zu ihrem eigenen Standabschnitt zu gelangen.“

Wenige Jahre später weihte man einen neuen Schiffsanleger ein und erweiterte die Trasse. Schon damals war es so, dass das Pferd wie heute seitlich neben dem Gleis auf einer festen Grasnarbe trottete. Denn die Schwellen mit Sand und Kies zu bedecken, war wegen der regelmäßigen Überschwemmungen bei Hochwasser nicht möglich.

Ein altes Inselhaus mit Schwimmdach

Ein altes Inselhaus mit Schwimmdach

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Den Zweiten Weltkrieg überlebte das Eiland ohne Schäden. Der Badebetrieb nahm wieder Fahrt auf. Es erschien undenkbar, die Besucher zukünftig mit einer Pferdebahn zu befördern. Ende Mai 1949 verkehrte sie zum letzten Mal. Auf Spie­keroog begann das Dieselzeitalter mit Lokomotiven und Triebfahrzeugen. Das Aus für diese motorisierte Inselbahn kam, als 1981 der ortsnahe Hafen eröffnet wurde. Der häufige Gast und Eisenbahnfreund Hans Roll, ein Lehrer aus Pforzheim in Baden-Württemberg, hörte davon. „Mein Vater setzte sich dafür ein, dass ein Großteil der Strecke erhalten blieb und wieder eine Pferdebahn als Touristenattraktion auf die Insel kam“, erzählt „Pferdeflüsterer“ Christian Roll: „Mitglieder des damaligen Vereins „Straßenbahnmuseum Stuttgart“ haben den Wagen mit der Nummer 21 nach Originalplänen und mit zahlreichen Originalteilen konstruiert.“ Mit der Bahn ging es bergauf und bergab. „Als Mein Vater 2014 erfuhr, dass sie eingestellt werden sollte, da sich kein neuer Betreiber fand, dachte ich, das ist meine Stunde“, sagt Christian Roll. Der in Berlin lebende gelernte Schauspieler und Gastronom packte die Koffer und wohnt seitdem von Frühjahr bis Herbst auf der grünen Insel. „Tamme hatte schon einige Jahre den Wagen gezogen, aber gemeinsam mit ihm habe ich nach einem zweiwöchigen Crashkurs den Kutschenführerschein auf einem Pferdehof im Emsland gemacht. Denn die Bahn ist schließlich ein schienengebundenes Kutschenfahrzeug.“

Mindestens viermal am Tag trabt der 13-jährige Tinker vom Museumsbahnhof zu den Dünen am Westend. Er wechselt sich täglich mit dem zehnjährigen Eddie ab. „Tinker haben ihren Ursprung in Irland und Großbritannien. Dort waren sie in früheren Jahrzehnten als Arbeitstiere für umherreisende Kesselflicker (englisch „tinker“) im Einsatz“, erklärt Christian Roll: „Für die Pferde ist es keine schwere Arbeit, den Wagen zu ziehen, auch wenn es so aussieht. Er läuft fast von selbst.“

2020 zogen abermals dunkle Wolken über Spiekeroog auf. Der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz verlangte eine Erneuerung des maroden Deichtors, das das Dorf vor Hochwasser schützt. Die ursächlich veranschlagte Summe hätte die Gemeinde nicht aufbringen können. „Unser Verein fand eine kostengünstigere Lösung und spendenfreudige Urlauber, Insulaner und Pferdebahnbegeisterte“, berichtet Dieter Mader.

Nach knapp 20 Minuten haben Tamme und Christian Roll mit ihren Fahrgästen die Endstation am Westend erreicht. In der Nähe befindet sich die kuriose Kneipe „Old Laramie“. Wer ein Stück weiter läuft, erreicht den Zeltplatz mit seinem urigen Kiosk, der wie ein Tante-Emma-Laden wirkt. Es ist geplant, die Trasse in den nächsten Jahren bis dorthin zu verlängern. Die Passagiere vertreten sich die Beine. Tamme macht sich mit Wasser und Heu fit für die Rückfahrt. Schon geht es wieder auf die Schiene, die von betörend duftenden Kartoffelrosen gesäumt ist. Morgen ist dann Eddie dran.

Die Museumspferdebahn fährt vom 1. April bis Ende Oktober. Reservierungen sind per SMS an 0177 5120519 möglich.

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