Schleswig-Holstein Mit der Lore unterwegs

Vor der Küste Nordfrieslands ragen zehn Halligen aus dem Wasser. Weltweit einmalig. Seit 2009 gehört die Region zum Unesco-Welterbe.

Pastor Matthias Krämer mit der Lore auf dem Weg nach Oland

Pastor Matthias Krämer mit der Lore auf dem Weg nach Oland

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Wenn sich Matthias Krämer die gelben Ohrenschützer überstülpt, läutet er entweder die Glocke neben der Langeneßer Kirche oder startet seine Lore. Mit dem Fahrrad sind es ein paar Minuten von der Kirchwarf bis zum Lorenbahnhof im Nordosten der Hallig. Viele urige Vehikel Marke „Eigenbau“ parken am Ende des Schienenstrangs. Die salzhaltige Nordseeluft hat sie rosten lassen. Die meisten sind offene Flachwagen mit Sitzbänken. Wenige haben einen geschlossenen containerartigen Aufbau. An der Kirchengemeindelore baumeln vorne zwei ausgeblichene Schiffspfänder als Puffer. Hinten ein ausgedienter Autoreifen.

Heute findet der Gottesdienst in der Sankt-Petri-Kirche auf der Nachbarhallig Oland statt. Um dorthin zu gelangen, nutzt der Pastor den Wattsicherungsdamm: „Das mache ich seit fast 30 Jahren, wenn Wind und Wasserstand es zulassen. Ich bin auf Langeneß zu Hause und betreue drei Kirchengemeinden. Circa 70 meiner Mitglieder wohnen hier, knapp 20 auf Oland und ein halbes Dutzend auf Gröde. Während der Sommermonate kommen immer einige Urlauber hinzu.“ Matthias Krämer dreht den Schlüssel um. Gleich der erste Versuch ist erfolgreich. Ohne zu mucken springt der Benzinmotor an. Laut rumpelnd entschwindet die braune „Seifenkiste“ mit maximal 15 Kilometern pro Stunde über den Schienenstrang. Signale gibt es nicht. Gefahren wird auf Sicht.

Halligen sind kleine Eilande im Wattenmeer vor der schleswig-holsteinischen Küste. 2009 wurde die Region Unesco-Weltnaturerbe. Die ersten Halligen entstanden 1362 bei der „zweiten Marcellusflut“ (auch „erste Grote Mandränke“ genannt). Sie überspülte ein riesiges Stück Land und riss große Teile mit sich. Nach weiteren Sturmfluten soll es einst über 100 Halligen gegeben haben. Zehn blieben übrig. Um sie und auch Inseln in der Nordsee zu erhalten, gibt es Wasserbauer wie Helge Paulsen, die für den „Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz“ tätig sind. „Inseln und Halligen sind die Wellenbrecher fürs Festland. Sie schützen es, wenn die Nordsee zu kappelig ist“, erzählt Paulsen. Früh am Morgen ist er mit einer knallgelben Diesellok, die einen Bauwagen zieht, vom Betriebshof in Dagebüll gestartet und über den neun Kilometer langen Wattsicherungsdamm zunächst nach Oland und weiter nach Langeneß gezuckelt. „Wir benötigen den Damm, um mit unserer Feldbahn Material wie Granitschotter oder Holz­pfähle zu transportieren. Halligbewohner dürfen ihn nutzen, um an Land Besorgungen zu erledigen oder um zum Arzt zu gehen“, erklärt der Wasserbauer: „50 Lizenzen sind vergeben. Für Gäste, die auf Langeneß Urlaub machen wollen, ist der Damm tabu. Dorthin fährt die Autofähre ab Schlüttsiel.“ Wer sich für eine Übernachtung auf dem beschaulichen Oland entscheidet, kann sich hingegen mit einer selbst konstruierten Lore aus Dagebüll abholen lassen. Auf dieser kleinen Hallig konzentrieren sich alle Gebäude auf einer Warft. Sie gruppieren sich um einen Fehting. Dieses Regenwassersammelbecken diente früher als Viehtränke. Auf dem winzigen Friedhof rund um die 200 Jahre alte Sankt-Petri-Kirche finden nach wie vor Bestattungen statt. Es gibt eine Gaststätte sowie Deutschlands einzigen reetgedeckten Leuchtturm. Ansonsten ganz viel Ruhe und weiten Blick aufs Wattenmeer.

 Der Grundstein des Hallighauses, in dem sich das Kapitän-Tad­sen-Museum auf der Hallig Langeneß befindet, wurde  1741 gelegt.

Der Grundstein des Hallighauses, in dem sich das Kapitän-Tad­sen-Museum auf der Hallig Langeneß befindet, wurde  1741 gelegt.

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Selbst auf der zehn Kilometer langen Hallig Langeneß tobt nicht das pralle Leben. Und das ist gut so. Zwischen 19 Warften erstrecken sich Entwässerungspriele und saftiggrüne Salzwiesen. Der Begriff „Warft“ leitet sich von „werfen“ ab, denn es handelt sich um künstlich aufgeworfene Erdhügel. Nur auf Langeneß hat man sich für den plattdeutschen Ausdruck „Warf“, also ohne „t“, entschieden. Die Fähre von Schlüttsiel legt in der Hauptsaison zweimal am Tag ganz im Südwesten an der Rixwarf an. Im Kiosk gibt es Leihfahrräder. Das beste Fortbewegungsmittel für alle, die aufs Auto verzichten können. Verfahren kann sich niemand. Es gibt lediglich eine Straße entlang der sich die Warften verteilen.

Halligen sind ein Reservoir für Rast- und Brutvögel. Auf der Schutzstation Wattenmeer auf der Peterswarf leisten junge Leute ihren ökologischen Freiwilligendienst ab. Als Nationalparkbetreuer bieten sie Wattwanderungen und pflanzen- oder vogelkundliche Führungen an. Hanna Zöbisch klärt auf, welcher Vogel mit rosafarbenen Stelzbeinen sich hinter dem „Halligstorch“ verbirgt, warum rastende Ringelgänse für das Weidevieh ein Problem darstellen und weshalb die Halligen hin und wieder „Landunter“ haben müssen. „Zwischen Herbst und Frühjahr passiert das bis zu 20 Mal. Dann ergießt sich die Nordsee über die Salzwiesen. Allein die Erdhügel, auf denen Menschen und Tiere geschützt sind, ragen noch aus dem Wasser“, erläutert sie: „Im Gegensatz zu Inseln haben Halligen keine Deiche. Sie sind bloß mit einer Steinkante gegen Erosion geschützt. Da der Meeresspiegel steigt, ist es wichtig, dass sie überflutet werden, damit sie Bestand haben. Bei jeder Sturmflut setzt sich Sand und Schlick ab. Dadurch wächst die Hallig in die Höhe.“

Wohnkultur aus früheren Jahrhunderten präsentieren die prächtig ausgestattete Friesenstube auf der Honkenswarf und das Kapitän-Tadsen-Museum. In der Nähe des roten Backsteinhauses steht eine nachgebaute Segellore, wie sie bis 1968 auf dem Schienendamm fuhr. Gesegelt werden konnte meist nur in eine Richtung. Gegen den Wind musste man schieben. Das bleibt Pastor Matthias Krämer heutzutage zum Glück erspart.

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