Carolinensiel Reich waren sie nicht, aber vornehm

An der Nordseeküste sind Siele seit Jahrhunderten lebenswichtig. Viele Orte tragen das Wort im Namen. Das Deutsche Sielhafenmuseum in Carolinensiel präsentiert die Entstehung der Region.

Mit dem Schaufelraddampfer Concordia II. können Besucher den Museumshafen von Carolinensiel erkunden.

Mit dem Schaufelraddampfer Concordia II. können Besucher den Museumshafen von Carolinensiel erkunden.

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Perfektes Strandwetter in Harlesiel an der ostfriesischen Nordseeküste. Eine schneeweiße Fähre verlässt den Außenhafen. Sie bringt gut gelaunte Urlauber zur Insel Wangerooge. Krabbenkutter kehren von ihrer nächtlichen Fangfahrt zurück. Gleich drei hintereinander liegende Häfen gibt es im Nordseeheilbad Carolinensiel-Harlesiel. Um herauszufinden, wie es dazu kam, steht trotz des strahlend blauen Himmels eine Museumstour auf dem Tagesplan. Im Zeitlupentempo schippert der Seitenraddampfer „Concordia II“ auf der Harle dem Museumshafen Carolinensiel entgegen. „Wir sind nicht einmal zwei Kilometer unterwegs“, erläutert Kapitän Jürgen Ewers: „Doch historisch gesehen haben sie es in sich. 300 Jahre zuvor würden wir nicht auf dem Fluss, sondern in der Nordsee fahren. Jahrhundertelang befand sich hier die Harlebucht, die sich fast zehn Kilometer weit ins Land bis zur Siedlung Funnix nördlich der Stadt Wittmund ausdehnte.“

Schon ist die Friedrichsschleuse mit der weißen Zugbrücke erreicht. Friedrich der Große von Preußen ließ sie 1765 errichten, um den dahinter liegenden Carolinensieler Hafen vor Sturmfluten zu schützen. Um diesen gruppieren sich drei Gebäude des Deutschen Sielhafenmuseums. Es handelt sich um das Groot Hus, das Kapitänshaus mit Wohnküche, „guter Stube“ und Schifferkneipe sowie die Alte Pastorei mit Nationalpark-Haus. Davor dümpeln unterschiedliche Traditionssegler. Die meisten befinden sich in Privatbesitz. Nur der bald 100 Jahre alte hölzerne Fischkutter „Gebrüder“ gehört zum Museum. Kapitän Ewers stoppt die „Concordia II“ direkt vor Mammens Groot Hus, einem früheren Kornspeicher mit Wohn- und Geschäftszimmern. Den Rundgang durch die Räume begleitet die Heimatschriftstellerin Marie Ulfers. Wie ein roter Faden ziehen sich ihre Geschichten aus dem 1949 veröffentlichten Roman „Windiger Siel“ mittels Textzitaten oder Audiostationen durch die Ausstellungsbereiche. „1888 wurde Marie Ulfers in Carolinensiel geboren. Da ging die große Zeit der Segelschiffe langsam zu Ende“, berichtet Museumsleiterin Dr. Heike Ritter-Eden: „Die Eisenbahn war zur Konkurrenz geworden. Die alten Segler konnten mit den neuen, schnelleren Dampfschiffen nicht mehr mithalten. Mit ihrem Buch, das Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, setzte Marie Ulfers, deren Vater ebenfalls Segelschiffkapitän gewesen war, Carolinensieler Seefahrerfamilien ein literarisches Denkmal.“ Die Sielhafen-Kapitäne waren die Frachtfahrer der Meere. Mit ihren nicht großen, doch sehr seetüchtigen Schiffen liefen sie einen Auslandshafen nach dem anderen an und luden, was sich ihnen an Ladung bot. Sie waren stolz, ihr eigener Herr zu sein. Als Kapitänsfamilie gehörte man zur besseren Gesellschaft im Dorf. Von Marie Ulfers‘ Mutter soll der Ausspruch stammen: „Reich waren wir nicht, aber vornehm“. Denn der Begriff „windiger Siel“ bezieht sich nicht nur auf die meist steife Brise, die an der Küste weht, sondern beschreibt auch das Lebensgefühl in den Sielorten. Es waren weltoffene, wagemutige, tatkräftige und lebensfreudige Schiffer, die der sittsamen und traditionsbewussten Landbevölkerung immer ein bisschen „windig“ vorkamen.

Auf einer großen Landkarte werden die Sielhäfen und die Anzahl der beheimateten Schiffe entlang der deutschen Nordseeküste im Jahr 1875 dargestellt. Hier erfahren Besucher, warum es so viele Orte mit dem Wort Siel im Namen gibt: Bensersiel, Carolinensiel, Dornumersiel, Greetsiel, Harlesiel, Neßmersiel oder Neuharlingersiel und weitere. „So bezeichnet man Ortschaften mit vorhandener oder ehemaliger Sielanlage an der Wattenmeerküste“, erklärt Geograf Peter Kremer: „Ein Siel ist eine Öffnung im Deich mit Schließfunktion. Bei Ebbe leitet das Siel überschüssiges Wasser aus Entwässerungskanälen aus dem Binnenland ins Meer ab. Bei Flut schützt ein Sieltor das Hinterland vor dem Eindringen des salzhaltigen Meerwassers.“ Wo sich heute Carolinensiel und Harlesiel befinden, war bis ins 18. Jahrhundert noch raue Nordsee. Von circa 1400 bis 1956 wurde die Harlebucht schrittweise eingedeicht. Diese Entwicklung ist durch drei Deichlinien und drei Häfen noch direkt erlebbar. „Das aus dem Meer durch Eindeichung gewonnene Marschland heißt Groden“, erzählt Peter Kremer: „Diese wurden häufig nach den gerade regierenden Fürsten benannt. Für den Carolinengroden und die Siedlung Carolinensiel war die Namensgeberin Fürstin Sophie Caroline.“ Ihr Porträt und das ihres Mannes, Fürst Georg Albrecht von Ostfriesland, hängen in vergoldeten Rahmen im Museum. Vor dem Deich legte man 1729 ein Hafenbecken an. Der Carolinensieler Hafen erlangte schnell große Bedeutung und war nach Emden der zweitgrößte an der ostfriesischen Küste.

Das Gebäude des Deutschen Sielhafenmuseums war Jahrzehnte ein Kornspeicher der Familie Mammen.

Das Gebäude des Deutschen Sielhafenmuseums war Jahrzehnte ein Kornspeicher der Familie Mammen.

Foto: Dagmar Krappe/DAGMAR KRAPPE

Dem Getreidehandel der Familie Mammen ist im Museum ebenfalls eine Ausstellung gewidmet. In der Speicherebene darüber stehen zahlreiche Schiffsmodelle. Nach dem Niedergang der Segelschifffahrt begannen manche Familien mit der Küstenfischerei. Mitte der 1950er-Jahre wurden der Außenhafen Harlesiel eröffnet, ein Badestrand aufgeschichtet, Campingplätze und Freizeiteinrichtungen geschaffen. Seitdem lebt die Region überwiegend vom Tourismus. Der einst quirlige Hafen von Carolinensiel verschlickte zusehends und wurde schließlich bis auf eine Entwässerungsrinne zugeschüttet. Ende der 1980er-Jahre versetzte man ihn als Museumshafen in seinen ursprünglichen Zustand.

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