Radreise Alles im Fluss

Reif für die Insel? Wer sich aufmacht, Hamburgs Elbinseln zu erradeln, wird mit einem spannenden Dreiklang belohnt: Hafen-Industriecharme, Quartiere gespickt mit visionärer Architektur und idyllische Naturräume treffen hier aufeinander.

 Kurzer Zwischenstopp auf der Radbrücke, die über den Äußeren Veringkanal an der Wilhemsburger Schleuse führt

Kurzer Zwischenstopp auf der Radbrücke, die über den Äußeren Veringkanal an der Wilhemsburger Schleuse führt

Foto: Dörte Nohrden

„Ist schön hier unten“, kommentiert Peter Müller seinen Arbeitsplatz in 24 Metern Tiefe nordisch knapp mit einem Lächeln. Über ihm öffnet sich das runde Schachtgebäude mit seinem imposanten Kuppeldach und den kathedralenartigen Fenstern. Vor ihm erstrecken sich zwei 427 Meter lange Röhren, durch die alljährlich rund anderthalb Millionen Besucher ans andere Flussufer strömen. Peter Müller ist Tunnelaufseher im Alten Elbtunnel. Im halbstündigen Wechsel mit Kollegen sorgt er hier oder am oberen Schachteingang dafür, dass alles seine Ordnung hat – und das seit 25 Jahren. Langweilig sei das nie. „Der Tunnel zählt ja zu den Top-Sehenswürdigkeiten Deutschlands, hier gibt es immer was zu erleben.“ Mal wird ein Tatort gedreht, mal ziehen flinke Füße beim Elbtunnelmarathon keuchend 48 Runden um die Ost- und West­röhre. Auch Kunst- und Musikveranstaltungen finden dort regelmäßig statt.

Wo könnte meine Tour rund um die Elbinseln also schöner starten als im 1911 eröffneten Elbtunnel? Wie schon anno dazumal Tausende Arbeiter auf dem Weg zur Hafenschicht, radele auch ich durch Europas ersten Flusstunnel. Der Aufzug am Südufer hievt Radler und Spaziergänger zurück ans Tageslicht. Um den Schachtbau geradelt: ein Perspektivwechsel. Vom Aussichtspunkt am Bornsteinplatz erstrahlt Hamburg in seiner ganzen Pracht. Der Blick wandert über die Landungsbrücken, den Michel bis hinüber zur HafenCity mit ihrer funkelnden Elbphilharmonie, dem neuen Wahrzeichen der Hansestadt. Fähren schaukeln über das kabbelige Wasser, eine milde Brise umweht die Nase.

Schon auf dem ersten Kilometer in Richtung Argentinienbrücke bin ich mittendrin im Hamburger Hafen-Feeling mit seinen Werftanlagen, Logistikzentren, den Containerterminals. Rechterhand reckt sich eine Armee Hafenkrane gen Himmel. Unweit blitzt ein strahlend weißes Kreuzfahrtschiff am Abfertigungsterminal hervor.

Nach dem Queren der Argentinienbrücke schlägt die abschüssige Klütjenfelder Straße die Brücke von Steinwerder nach Wilhelmsburg, Hamburgs größtem Stadtteil. So nah an der ruppigen Hafenindustrie, säumen hier wiederum charmante Jugendstilhäuser die Straßenzüge eines Wohnquartiers. Das lebendige, multikulturell geprägte Reiherstiegviertel zog seit jeher Einwanderer an. Der wachsende Hafen versprach Arbeit. Und die 1889 gegründete Wollkämmerei – heute erinnert nur noch ein Straßenname an sie – läutete die Industrialisierung Wilhelmsburgs ein. Zuwanderer aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen Posen und Schlesien wurden angeworben. In harter Arbeit sortierten, wuschen und kämmten sie Schafswolle aus Übersee – und fanden hier ein neues Zuhause. Eine weitere Einwanderungswelle insbesondere südeuropäischer Gastarbeiter schwappte nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Elbinsel. Bis heute sind hier weit über 30 Nationen zu Hause.

 427 Meter lang ist der Alte Elbtunnel, der Radfahrer und Fußgänger unterirdisch von einem Ufer zum anderen bringt.

427 Meter lang ist der Alte Elbtunnel, der Radfahrer und Fußgänger unterirdisch von einem Ufer zum anderen bringt.

Foto: Dörte Nohrden

Vorbei am Kulturzentrum Honigfabrik führt der Weg entlang des ruhigen, von Böschungen gesäumten Veringkanals. Unweit lockt ein Abstecher zum Energiebunker. Dass der einst marode Flakbunker aus Weltkriegszeiten heute als Ökostrom-Kraftwerk den Stadtteil mit Energie versorgt, ist der Internationalen Bauausstellung (IBA 2006 bis 2013) zu verdanken. Dabei ist es nur eines von 70 visionären Architekturprojekten, die der Elbinsel als Projektgebiet ein neues Gewand verpasste. Spannende und zugleich nachhaltige Wohn-, Arbeits- und Freizeitprojekte sind dadurch in Wilhelmsburg-Mitte entstanden. Sie werten nicht nur die Lebensqualität, sondern gleichermaßen das Image des einstigen „Underdog“-Stadtteils auf. 30 Meter rauscht der Aufzug in die Höhe. Über das „Café vju“ trete ich hinaus auf die Rundumterrasse des Bunkers. Die Weitsicht auf den Hafen, die City und das grüne Wilhelmsburg ist fantastisch. Auch ein Blick auf das nächste Zwischenziel, den Inselpark, lässt sich von hier erhaschen.

Dorthin führt nun der „Loop“, ein breiter Radrundweg durch Wilhelmsburg, auf dem es sich herrlich dahinrollen lässt. Vorbei am Uferpark und dem kultigen MS-Dockville-Musikfestivalgelände, bringt dieser mich schließlich in den Inselpark. Weiter geht es gen Südost. Die Süderelbe beschert herrliche Ausblicke – sogar einen Strand. Linkerhand öffnet sich bald die ursprüngliche, landwirtschaftlich geprägte Inselseite mit Wiesen und Äckern, versprengten Häusern und Höfen. Der grüne Hauptdeich zur Rechten ist zugleich Wegweiser zu einem besonderen Biotop: dem Naturschutzgebiet Heuckenlock. Durch dieses führt ein verwunschener Spazierpfad. Sein Süßwassertideauwald gilt als Hamburgs letzter Urwald.

Auf einem von Linden gesäumten Sandpfad radele ich den letzten Kilometer bis zum südlichsten Winkel Wilhelmsburgs und erklimme die Stufen des historischen Leuchtfeuers Bunthaus. Die Sicht vom kleinen, hölzernen Turm reicht weit hinaus auf den breiten Strom, der sich genau hier in Süder- und Norderelbe teilt. Binnenschiffer und Freizeitkapitäne schippern über die Elbarme, welche die flunderförmige Insel liebevoll zu umarmen scheinen.

Zurück unten sattele ich wieder auf und folge dem nördlichen Blau stromabwärts, begleitet von blökenden Schafen. Wie Rasenmäher machen sie sich über den grasbewachsenen Deich her. Nach einigen Kilometern entspannten Dahinradelns geht es schließlich inseleinwärts, vorbei an historischen, reetgedeckten Katen. Bald rolle ich entlang der malerischen mäandrierenden Wilhelmsburger Dove Elbe. Nur wenige Kilometer weiter: Wie ein Hügel aus dem Teletubbie-Land erhebt sich östlich der sattgrün bewachsene Energieberg. Seinen neuen Namen – bis vor einigen Jahren nannte man ihn noch „Monte Mortale“ – trägt er zu Recht: Zwei riesige Windräder drehen sich auf ihm, während eine Fotovoltaikanlage am Südhang kostbare Sonnenenergie einfängt. Eine lange Treppe führt auf den 40 Meter hohen Hügel.

Von diesem sause ich alsbald hinunter, um auf einem letzten Tourenstopp einer besonderen Epoche Hamburgs nachzuspüren. Originalgetreu nachgebaute Backsteinhallen bilden das Auswanderermuseum BallinStadt. Die sechs Hallen sind gefüllt mit Fotos und persönlichen Anekdoten, mit historischen Gegenständen und Nachbauten historischer Schiffskabinen, in denen einst Millionen Europäer über den Atlantik in die neue Heimat Amerika schipperten. Wohl kein anderer Ort Hamburgs ist so sehr durch Ankunft und Aufbruch – ja durch Hoffnung – geprägt wie die Elbinsel, denke ich, zurück an den Landungsbrücken. Der Ponton unter mir hebt und senkt sich, allseits von Wasser umschwappt. Seit jeher ist hier alles im Fluss.

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