Nordsee Föhr: Eine Insel kommt zur Ruhe

Wo friesische Tradition zu jeder Jahreszeit gepflegt wird. Wo Grabsteine von Walfang und Wagemut erzählen, wo das Wattenmeer staunen lässt und wo jetzt wieder Vogelschwärme wie Wolken am Himmel tanzen.

Die Altstadt von Wyk auf Föhr ist ein malerisches Motiv.

Die Altstadt von Wyk auf Föhr ist ein malerisches Motiv.

Foto: Bernd Schiller

Es war für viele Insulaner ein guter Sommer, ein so guter, als hätte es Corona nie gegeben. Für manche Urlauber indes war die Idylle, die sie jahrelang in Wyk oder Nieblum , in Oldsum oder Süderende mühelos gefunden hatten, diesmal hinter Pulks von Radfahrern und Flaneuren verschwunden. Schlangestehen vor Cafés war vielerorts angesagt; wer seinen Tisch im Lieblingsrestaurant nicht Wochen im lange im Voraus reserviert hatte, musste zuweilen auf Imbissbuden oder Selbstversorgung ausweichen.

Erst jetzt kehrt die Insel, die neuerdings als „friesische Karibik“ beworben wird, langsam zu jener Beschaulichkeit zurück, die ihre vielen Stammgäste schätzen. Zwar spülen die Herbstferien demnächst noch eine letzte, eher sanfte Urlauberwelle an die Strände und in die reetgedeckten Pensionen und Ferienhäuser. Aber die Zeit der Zünftigen hat bereits begonnen, die Saison der Deich-, Strand-, Rad- und Wattwanderer, die sich tagsüber nur zu gern gegen den Wind stemmen, die den Himmel und die Weite genießen und dabei ihre Seele baden und ihre Sinne schärfen. Auch die Vogelkieker, wie die Birdwatcher hier heißen, haben nun ihre hohe Zeit. Von ihren Hotspots an der Godelniederung oder im nördlichen Vorland beobachten sie zum Beispiel Pfuhlschnepfen, deren Schwärme wie tanzende Wolken am Himmel wirken.

Am Abend hocken dann Insulaner und ihre Gäste in den Gaststuben unterm Reetdach zusammen, zum Beispiel im Dörpskrog von Oevenum. Bodenständig und zünftig geht es hier zu, weit entfernt von Schickimicki. Heute treffen sich die Nachbarn zum Skatspielen, morgen vielleicht die Ringreiter aus Osterlandföhr. Sie gehören zu einem der vier Vereine, in denen auf Föhr etwa 140 Aktive diesen friesisch-dänischen Reitersport betreiben, der seine Wurzeln im Mittelalter hat und seine Traditionen nie aufgeben hat.

 Der Steinmetz Markus Thiessen ist von Düsseldorf nach Föhr ausgewandert.

Der Steinmetz Markus Thiessen ist von Düsseldorf nach Föhr ausgewandert.

Foto: Bernd Schiller

Föhrer Geschichte und Identität vermittelt anschaulich das Wyker Friesenmuseum. Zu den großen Themen dort gehört der Walfang vor Grönland, der über Jahrhunderte die Grundlage für Wohlstand und Ursache bitteren Leids Föhr war. Keine Familie auf der Insel, die nicht von Vätern, Söhnen, Brüder berichten kann, die seinerzeit auf See geblieben sind. Auch ein anderes Schicksal teilen die meisten der alten Familien. Noch bis ins vergangene Jahrhundert, als Seefahrt und Fischfang längst mehr alle ernähren konnten, sind Männer zum Auswandern gezwungen gewesen. Viele sind damals fortgegangen, vor allem nach Amerika; viele aber hat die Sehnsucht zurück nach Föhr getrieben. Und manchmal hat eine Tradition von drüben eine neue auf der Insel angestiftet. Nicht mit einem Klaren oder einem Aquavit, wie andernorts im Norden, spült man hier den Fisch herunter, sondern mit einem Manhattan auf Eis: ein Viertel weißer Wermut, ein Viertel roter Wermut und ein großzügiges Viertel Whisky.

Einer, der vor 30 Jahren aus Düsseldorf zugewandert ist, der Steinmetz und Künstler Markus Thiessen, hat sich auf Föhr Respekt und Renommee erworben. Nach vielen Ferien mit den Eltern auf Föhr, nach Lehr- und Wanderjahren, hat er die Tradition der sprechenden Grabsteine wiederbelebt. Sie schildern, oft ergreifend, die Schicksale Föhrer Familien. Zu sehen und zu lesen sind diese massiven Logbücher des Lebens auf den Friedhöfen der alten Inselkirchen, besonders eindrucksvoll vor St. Johannis in Nieblum und St. Laurentii in Süderende. Längst hat sich Thiessen auch einen Namen als Künstler gemacht. Seine Arbeiten erzählen vor allem in Wyk, wie etwa die Stadtsäule in der Mittelstraße, Geschichte und Geschichten.

Nachsaison. Zeit und Muße für einen Klönschnack in Werkstätten und Ateliers. Zum Beispiel bei Hauke Nissen, dem urfriesischen Tonkünstler und Inselphilosophen. Man trifft ihn entweder am Küstensaum oder in seinem kleinen Studio in Oldsum. Dort mischt er aus den Geräuschen des Meeres, der Wellen, der Möwen und seinen Instrumenten Klangwelten, die Kopf und Seele beruhigen. Seine CDs gelten als ebenso inseltypische Souvenirs wie der Schmuck der Wyker Goldschmiedin Ulrike Thiessen, Ehefrau des Bildhauers Markus. Beliebtestes Motiv für Anhänger und Broschen ist das alte christliche Symbol Kreuz, Herz und Anker. Es steht für Glaube, Liebe, Hoffnung und regt bis heute auf vielen Türen ehemaliger Kapitänshäuser zum Innehalten und Nachdenken an.

Bis weit in den Oktober hinein pflegen Sonne, Wind und Regen noch gute Freundschaft. In den kuscheligen Cafés in Alkersum oder Nieblum löst der Teepunsch den Manhattan ab. Föhr findet wieder zu sich selbst. Und niemand vermisst irgendeine Karibik.

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