Hamburg Ein Ruheort auch für die Lebenden

Mehr Park, weniger Gräber: Weil sich die Bestattungsrituale ändern, wandeln sich auch die Friedhöfe. Das gilt auch für den größten Parkfriedhof der Welt in Hamburg-Ohlsdorf.

 Der Ohlsdorfer Friedhof ist Heimat vieler Tiere – zum Beispiel von Graugänsen.

Der Ohlsdorfer Friedhof ist Heimat vieler Tiere – zum Beispiel von Graugänsen.

Foto: dpa-tmn/Ulrich Perrey

Wer singt da schon wieder? Auf einer Wegkreuzung zwischen Kapelle 4 und einem Schöpftrog im Hundertwasser-Stil bleibt Thomas Schmidt stehen, lauscht und wirft abwechselnd die Arme in die Luft, so als wollte er Gimpel, Kohlmeise und Amsel dirigieren. „Da ruft der Zilpzalp, weiter weg ein Zaunkönig!“

Schmidt, 73, ist Biologe und hat die Vogelkunde zu seinem Spezialgebiet gemacht. „Ich kann noch sehr gut hören, das ist mein Kapital.“ In normalen Zeiten führt der Ornithologe wöchentlich für den Naturschutzbund Hamburg über den Ohlsdorfer Friedhof. An diesem Tag gibt er eine kleine Privatführung. „Man muss schlendern, sonst nimmt man nichts wahr“, sagt er.

Der Friedhof Ohlsdorf ist der größte Parkfriedhof der Welt - und damit nicht nur eine letzte Ruhestätte für Verstorbene, sondern auch eine fast 400 Hektar große Oase inmitten der Großstadt.

Zwischen alten Grabsteinen und neu angelegten Wildblumengärten sucht der frühere Biologielehrer vor allem das Leben und die Begegnung: Als Autor naturkundlicher Stadtführer ist er seltenen Tier- und Pflanzenarten auf der Spur. „Der Ohlsdorfer Friedhof ist ein Paradies“, bekräftigt Schmidt. „Das Leben ist hier vor allem nachts aktiv mit zig Fledermausarten, Marder, Waschbär – und in einem Abflussrohr habe ich einen Fuchs entdeckt.“

Für seine jüngste Veröffentlichung musste sich Schmidt allerdings nicht in der Dämmerung auf die Pirsch legen. „Was grünt und blüht in Hamburg?“ ist ein botanischer Stadtführer, der auch eine Tour über den Ohlsdorfer Friedhof enthält. Diese beginnt im ältesten Teil der Anlage und folgt einem Pfad, der sich verheißungsvoll „Oasen des Lebens“ nennt. Insgesamt 29 Stationen informieren über Gehölze, Insekten und das Werden und Vergehen auf dem Friedhof.

„Der Naturlehrpfad ist ein Projekt unseres Freiwilligen Ökologischen Jahres“, erzählt Friedhofsplaner Torsten Herbst, der gerade zwei 17-Jährige betreut. „Die Freiwilligen setzen sich bei Interesse auch mit Schulen in Verbindungen und bieten Führungen an.“

Ein Projekt, das gut zum Leitspruch des ersten Friedhofsarchitekten Johann Wilhelm Cordes passt: „Der Friedhof soll nicht eine Stätte der Toten und der Verwesung sein.“ Vielmehr wollte Cordes ein freundliches Gesamtbild aus Erde, Pflanzen, Wasser und Bauten mit geschwungenen Linien und Sichtachsen schaffen, als er den Auftrag für die Bauleitung eines neuen Friedhofs vor den Toren der Stadt bekam. Was die Hanseaten ihm dafür 1874 präsentierten, war jedoch schlechtes Ackerland. Sandig, Kleingehölze, einige Bäume, Knicks. Cordes habe die Topografie genutzt und zum Beispiel aus Niederungen und Viehtränken Teiche angelegt, erklärt Herbst.

Gleich zu Beginn der Tour hinter der ersten Infotafel bekommt der Besucher einen Geschmack davon: Eine geschwungene, schmiedeeiserne Brücke führt über die schmalste Stelle des Südteiches, darunter zieht ein Entenpaar auf dem dichtbewachsenen Teppich der Wasserlinse seine Bahnen. Noch herrscht friedliche Ruhe, die Bagger am Straßenrand gegenüber einer kleinen Südteichinsel stehen still.

„Die Insel bekommt eine neue Bepflanzung, eine Sitzbank und ihre alte schmiedeeiserne Brücke zurück“, erläutert Planer Herbst. „Wir arbeiten das Parkthema in diesem Bereich stärker heraus, das wird ganz spannend.“ Wilhelm Cordes würde heute wohl zustimmen.

Was der spätere Friedhofsdirektor damals noch nicht ahnte: Gestorben wird zwar in einer wachsenden Stadt nach wie vor, aber immer seltener in der Erde bestattet. Nur noch zwölf Prozent der ursprünglichen Fläche werden dafür benötigt. So bleibt reichlich Raum für neue Ideen, die unter dem Projektnamen Ohlsdorf 2050 gesammelt werden.

Die Ruhe-Oase auf der Südteichinsel zählt dazu und soll nach der Fertigstellung den Blick übers Wasser bis in den Rosengarten lenken, den schon Cordes mit Sorten aus dem alten Ägypten anlegte. Heute wacht der einstige Architekt als Muschelkalkbüste inmitten konkav angelegter Säulen. Die Sorge seiner Tochter, dass zu wenige Besucher an dem Monument vorbeikommen würden, hat sich inzwischen als unbegründet erwiesen. Schon am Morgen sind die Sonnenbänke im Halbkreis gut besucht, auch Thomas Schmidt kommt gern zum Entspannen her.

An diesem Vormittag folgt der Biologe summenden Bienen und hoppelnden Hasen und bleibt vor einer blühenden Eberesche stehen. „Das werden später die roten Vogelbeeren.“ Wer sie koche, vernichte die Giftstoffe und könne eine hervorragende Marmelade herstellen. Altes Wissen, das auf dem Friedhof vergraben liegt. „Die Leute kannten sich früher viel besser aus“, findet Schmidt. Heute sprächen sie von Unkraut und Ungeziefer, wenn es um Wildkräuter und Ur-Insekten gehe.

Auf dem Naturlehrpfad lernen Besucher, die eigene Sichtweise zu hinterfragen, zum Beispiel an der Infotafel „Strauch mit Migrationshintergrund“. Zwar lockt die farbenprächtige Blüte der Rhododendren im Juni ganze Busreisen auf den Friedhof, sie bietet heimischen Insekten aber kaum Pollen und Nektar – die immergrüne Pflanze wurde aus Asien und Nordamerika importiert.

Der Lehrpfad führt rund um Kapelle 4 und wieder zum Ausgangspunkt nahe beim Zentraleingang zurück. Gelegentlich schlägt Schmidt auch andere Routen ein. Einmal landete er bei einer Klanginstallation in der Nachbarkapelle. „Psychedelische Musik vom Band, das war entspannend.“ Auch diese Kapelle stammt noch von Cordes und sucht nun nach neuen Nutzungsmöglichkeiten.

Wird Ohlsdorf 2050 schrumpfen? Friedhofsarchitekt Herbst beschwichtigt: „Der Friedhof hat unschätzbaren Wert, er steht komplett unter Denkmalschutz und soll in seiner Fläche erhalten bleiben.“ Aber er muss auch mit der Zeit gehen.

 Der Vogelkundler Thomas Schmidt führt Besucher über den Ohlsdorfer Friedhof – und erklärt dabei Vogelstimmen und vieles mehr.

Der Vogelkundler Thomas Schmidt führt Besucher über den Ohlsdorfer Friedhof – und erklärt dabei Vogelstimmen und vieles mehr.

Foto: dpa-tmn/Deike Uhtenwoldt
 Weitläufig: Die Ruhestätte in Hamburg-Ohlsdorf gilt als größter Parkfriedhof der Welt.

Weitläufig: Die Ruhestätte in Hamburg-Ohlsdorf gilt als größter Parkfriedhof der Welt.

Foto: dpa-tmn/Deike Uhtenwoldt

Orangefarbene Infoelemente erläutern die geplanten Maßnahmen und regen zum Nachdenken an. „Eingänge sind Übergänge“ liest Thomas Schmidt, als er das Vogelgezwitscher mit dem Lärm der vierspurigen Straße tauscht, hinter der seine U-Bahn wartet. Es wird nicht seine letzte Reise auf den größten Parkfriedhof der Welt hier in Hamburg gewesen sein.

(dpa)
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