Urlaub an der Ostsee Dem Ruf der Wildnis folgen

Über dem Stoppelfeld schmettern Trompeten, zwischen den Dünen probt das Balztheater: Kranichrast und Hirschbrunft locken im Herbst Naturfreunde und Fotografen an die Ostsee.

Als Martin Buhr den Motor des kleinen Holzkahns abstellt, stehen die Schaulustigen am Ringeldeich beim Zingster Bodden schon Spalier. Sie tragen wetterfeste Jacken und bunte Mützen, die Finger nesteln an Ferngläsern und Kameras. Es ist früher Abend, die Sonne beginnt den Himmel rot zu färben. Seine Passagiere mummeln sich in Wolldecken. "Von dort müssen sie gleich kommen", sagt Buhr und zeigt nach Südwesten, wo die stählernen Träger der Meiningen Brücke in den Abendhimmel ragen. Zehn Augenpaare fixieren den Horizont, leise klatschen die Wellen gegen das Boot. Dann kommen sie.

Ein erstes Geschwader Graukraniche taucht am Horizont auf. Schnell nähern sich die Vögel. Was eben noch aussah wie eine Gans mit Adlerschwingen, wird durch die Linsen des Fernglases zum grazilen Luftakrobaten mit rotem Käppchen. Wie Balletttänzer schweben die Kraniche am Himmel, die Beine und den Hals weit ausgestreckt, die Flügel schwingen filigran. Aus Hunderten von Vogelkehlen schmettert und trompetet es am Abendhimmel. Eine Formation nach der anderen fliegt über den Zingster Strom und das Boot von Skipper Buhr. Nur ein paar hundert Meter weiter beginnen die Vögel zu sinken, wie das Fahrgestell eines Flugzeugs klappen sie die langen Beine nach unten. Der Landeanflug auf die Insel Kirr beginnt.

Bis zu 70 000 Kraniche machen im Herbst und Frühjahr in der Vorpommerschen Boddenlandschaft zwischen der Halbinsel Darß und der Westküste von Rügen Station. Die Region ist einer der bedeutendsten Kranichrastplätze in Mitteleuropa. Auf abgeernteten Ackerflächen legen die großen Zugvögel, die mit bis zu 1,20 Meter Körperhöhe manchen Erstklässler überragen, Energiereserven für den Weiterflug an. Geschützte Schlafplätze finden sie auf den Inseln oder im Flachwasser der Rügen-Bock-Region.

Mit den Kranichen kommen die Naturfreunde und Hobbyfotografen an die Ostsee. Es ist die Zeit der Ferngläser und Objektive. Unvermittelt parken Autos jetzt mitten auf der Landstraße, weil Vogelfreunde Äcker und Feuchtwiesen observieren. Erntet ein Bauer sein Maisfeld, sind Kraniche wie Naturtouristen im Handumdrehen vor Ort. Die Vögel picken, die Menschen sind verzückt. "Diese Knurr- und Gurrlaute, die sie beim Äsen abgeben, das ist einfach toll", sagt Heidi Wehrmann. Die Berlinerin betreut ehrenamtlich als Kranich-Rangerin die Beobachtungsstation Günzer See für jeweils drei Wochen im Herbst und im Frühjahr.

Auch Günter Nowald kann von den majestätischen Vögeln nicht genug bekommen. Mit Fernglas und Fotorucksack auf dem Rücken steht der promovierte Biologe und Leiter des Kranich-Informationszentrums in Groß Mohrdorf vor einem abgeernteten Getreidefeld. Zwischen den kurzen Stoppeln beugen sich lange Hälse mit roten Käppchen. Korn für Korn picken die Kraniche vom Boden. Nowak kennt dieses Bild seit vielen Jahren. Der Biologe und sein Team kümmern sich deutschlandweit um Kranich-Schutzprojekte, sie beringen Vögel und halten deren Flugrouten fest.

Die Kraniche sind nicht das einzige Naturspektakel, das man zu dieser Zeit in der Vorpommerschen Boddenlandschaft beobachten kann. Hinter den Dünen des Darß versammeln sich ab Mitte September die Rothirsche zur Paarung. Am Darßer Ort, der nur zu Fuß, per Fahrrad oder Pferdekutsche erreichbaren Nordspitze der Halbinsel, sind die großen, scheuen Tiere gut zu beobachten. Im oberschenkelhohen Gras strecken die Männchen ihre breite Brust nach vorne. Den Kopf nach oben und mit weit nach hinten gestrecktem Geweih röhren sie um die Gunst der Weibchen. Das dumpfe, eindringliche Rufen ist noch viele Kilometer weiter zu hören.

"Wer einen Hirsch in Deutschland in freier Wildbahn fotografieren will, kommt hierher", sagt Mario Müller, Naturschutzwart und Mitglied der Gesellschaft deutscher Tierfotografen. Müller ist seit vielen Jahren mit der Kamera an der Ostseeküste unterwegs. Seine Fotografien von Tieren und Landschaften werden regelmäßig in Ausstellungen gezeigt. Während der Urlaubssaison bietet er Exkursionen für fotobegeisterte Touristen an.

Kurz nach Sonnenaufgang oder in den Abendstunden begibt er sich dann mit seinen Schülern auf Foto-Pirsch. Naturfotografie heiße vor allem zu warten, sagt Müller. Auf das richtige Licht oder den Regen, der die Farben zum Leuchten bringt. Und Geduld zu haben, bis der Hirsch sich in die richtige Pose bringt, sein Geweih nach hinten legt und zu röhren beginnt. Dann klicken die Auslöser, und mit etwas Glück bannen die Fotoschüler einen ganz besonderen Urlaubsmoment: Den Ruf der Wildnis am Ostseestrand.

(RP)
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