Vor 100 Jahren Reise zum Südpool

Düsseldorf · Vor 100 Jahren endete das Zeitalter der Entdeckungen. Der Norweger Roald Amundsen erreichte am 14. Dezember 1911 das südliche Ende der Erdachse. Er kam Robert Falcon Scott zuvor. Der Engländer und seine Crew überlebten den Rückweg nicht.

Eisberg in der Antarktis abgebrochen (2008)
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Eisklotz in der Antarktis abgebrochen

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Langes, wallendes Haar, dunkle Augen, scharfe Gesichtszüge. Kein Zweifel, Kathleen Bruce ist eine attraktive Frau. Die Bildhauerin geht an Londons besten Adressen ein und aus. Zum Beispiel bei der Schauspielerin und Theaterregisseurin Mabel Beardsley. Im Herbst des Jahres 1907 trifft sie dort beim Tee Robert Falcon Scott, Sohn eines Rosenzüchters, Offizier der Royal Navy. Es ist der Beginn einer großen Liebe - und vielleicht ist dieser Spätnachmittag auch der eigentliche Beginn des Verhängnisses.

Ein paar Monate nach ihrer Begegnung schreibt Kathleen ihrem Verlobten, den sie Con nennt: "Oh, mein Liebster, was nützt es, all diese Energie und diesen Unternehmungsgeist zu haben, wenn so eine kleine Sache nicht gemacht werden kann. Schreib und sage mir, dass Du zum Pol gehen willst. Es muss getan werden. Beeile Dich und dreh jeden Stein um - und liebe mich mehr und mehr, das brauche ich."

Britische Expedition endet tödlich

Im ewigen Eis ist Robert Falcon Scott gewesen. Er hat bereits eine Mannschaft in die Antarktis geführt. Doch noch nie hat er zu irgendjemandem gesagt, dass er das Wagnis einer Expedition ins Innerste des entlegenen Kontinents, zum Pol, eingehen wolle. Auch zu Kathleen nicht. Doch sie ahnt, wohin sein Bestreben geht.

Sie unterstützt ihn, sie treibt ihn in ein Abenteuer, das im März 1912 für die britische Expedition tödlich endet. Das Rennen zum Pol ist da längst entschieden. Am 14. Dezember 1911 - vor nunmehr 100 Jahren - erreichen der Norweger Roald Amundsen und seine vier Begleiter als erste Menschen den südlichsten Punkt der Erdachse.

Gut 16 Jahre zuvor betritt ein anderer Norweger die altehrwürdigen Hallen des Imperial College in London. Es ist Carsten Egeberg Borchgrevink. In seiner zerzausten Expeditionskleidung verweigern ihm die Diener den Zutritt zum Saal, in dem die Royal Geographical Society tagt. Borchgrevink leiht sich einen Frack, um Zutritt zu erhalten. Er kommt direkt aus der Antarktis.

Als erster Mensch hat der Norweger einen Fuß auf diese Terra Incognita gesetzt. Nun elektrisiert er die Zuhörer mit seinen Berichten über das feste Land und die Flechten, die dort wachsen. Spätestens seit diesem Moment fasziniert der letzte noch nicht erforschte Kontinent die Geografen. Vor allem die Briten, eine Weltmacht zu der Zeit, fühlen sich herausgefordert. Den Norwegern wollen sie das Feld nicht überlassen.

1907 sucht der irische Polarforscher Ernest Shackleton per Zeitungsanzeige eine Mannschaft: "Männer gesucht für gewagte Reise. Wenig Lohn. Bittere Kälte. Lange Monate in kompletter Dunkelheit. Konstante Gefahr. Sichere Rückkehr ungewiss. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfall."

Faszination Südpol

Shackleton scheitert. Doch die Faszination Südpol bleibt. In den Salons, unter den Geografen, den Forschern, den Abenteurern.

Am 13. November 1909 bringt Kathleen, jetzt Scotts Ehefrau, den gemeinsamen Sohn Peter zur Welt. Am selben Tag kündigt Robert Falcon Scott nach Monaten der Vorbereitungen endlich an: "Das Hauptziel der Expedition ist es, den Südpol zu erreichen und für das britische Empire diese Errungenschaft zu sichern."

Amundsen hat sich derweil ebenfalls auf eine Expedition zum Pol eingestellt - zum Nordpol allerdings. Sein Landsmann Fridtjof Nansen war diesem Pol mit seinen Schlitten bis auf ein paar hundert Kilometer nahegekommen. Amundsen stattet die "Fram" (deutsch: Vorwärts), das Schiff, das er sich von Nansen geliehen hat, aus und schart eine Crew um sich.

Doch als die Amerikaner Frederick A. Cook and Robert E. Peary für sich (fälschlich, wie man heute weiß) reklamieren, den Nordpol erreicht zu haben, ändert Amundsen seine Pläne aus wirtschaftlichen Gründen. Denn er hat sich für seine Entdeckungsreise hoch verschuldet. Zurückzahlen kann er nur, wenn er mit einer Sensation zurückkehrt, die sich in Vorträgen vermarkten lässt. Nur in einer Reise zum Südpol sieht er eine Chance dazu. Doch das behält er zunächst für sich. Erst beim Zwischenstopp auf der portugiesischen Atlantikinsel Madeira weiht er die Mannschaft ein: Der Südpol, nicht der Nordpol gilt fortan als Ziel.

Der Wettlauf zum Pol ist spätestens in dem Moment eröffnet, als Scott in Melbourne, Australien, ein Telegramm in Empfang nimmt. Mit seinem von Dampf- und Windkraft angetriebenen Schiff "Terra Nova" will er von dort auf den Südkontinent übersetzen. An einen Konkurrenten, an einen Wettlauf übers Eis hat er bis zu diesem 12. Oktober 1910 nicht gedacht. Roald Amundsens Bruder Leon hat das Telegramm neun Tage zuvor in Kristiania, wie Oslo damals hieß, abgeschickt. Der dürre, aber hochbrisante Text:

"Darf Sie informieren: Fram auf dem Weg zur Antarktis. Amundsen." Das Rennen zum Südpol wird zum Wettlauf zweier Männer, die den Erfolg um jeden Preis wollen, die ihre Eitelkeiten befriedigen wollen, die Mensch, Tier und Material schinden.

Mit eigenen Geschirren zum Pol

Beide Teams nähern sich nicht vom Atlantik, sondern von der Europa abgewandten, der pazifischen Seite, dem Pol. Denn von dort ist die Entfernung zwischen der sommerlichen Wasserkante und dem Endpunkt der Erdachse deutlich geringer. Amundsen legt sein Basislager Framheim in der Bucht der Wale an. Es liegt 111 Kilometer näher am Pol als Scotts auf vorherigen Reisen erprobte Basis auf der Ross-Insel.

Im Südsommer 1910/11 - auf der Nordhalbkugel ist Winter - bereiten die Teams ihre Routen vor. Sie bereisen die ersten Abschnitte der Strecken zum Pol und legen Depots mit Nachschub an. Die kleine Siedlung Framheim - auf und unter der Eisdecke - wird während der folgenden langen dunklen Monate des Südwinters zum Experimentierlabor. Da die nach Vorlagen aus Alaska gearbeiteten Hundegeschirre unter den polaren Bedingungen nicht perfekt funktionieren, näht Martin Rønne zum Beispiel 46 neue Geschirre. Auch an der bei den Inuit entliehenen Fellkleidung wird herumgeschneidert.

Am 4. Februar 1911 bekommt Framheim einen Überraschungsbesuch von Scotts Schiff. Der Kommandant fehlt aber, er ist im Basislager geblieben. Von einer freundlichen Begegnung wird berichtet. Die Engländer zeigen sich beeindruckt davon, wie die Norweger mit ihren Schlitten über das Eis fahren. Amundsen wiederum sieht mit großem Respekt die technische Ausrüstung seiner Widersacher.

Der Winter geht schnell vorbei. Doch Amundsen beschleicht ständig die Angst, Scott könne früher aufbrechen und schneller unterwegs sein. Am 24. August sehen die Norweger nach vier Monaten wieder die Sonne. Und als am 7. September die Temperatur zum ersten Mal in den Minus-20-Grad-Bereich steigt, entscheidet er, am nächsten Tag aufzubrechen. Doch die Winterkälte ist noch nicht vorbei. Am 11. September stehen die Norweger bei "wundervollem Wetter, ruhig und klar", wie Amundsen notiert, auf. Das Thermometer zeigt minus 55 Grad.

Es ist zu kalt. Nach diesem Fehlstart macht sich die Gruppe am 20. Oktober zum zweiten Mal auf den Weg. Amundsen entscheidet sich, die direkte Route zum Pol zu wählen. Die Expedition ist gewillt, jedes Hindernis zu überwinden, das auf seinem Weg liegt. Die Norweger gelangen früh in ein Territorium, das noch nie ein Mensch betreten hatte.

"Haben zehn Hunde geschlachtet"

Anders Scott, der sich 13 Tage später auf den Weg macht. Der verlässt sich auf die Vorarbeit früherer britischer Entdecker. Bis kurz vor dem Pol folgt er der Linie, auf der sich Ernest Shackleton im März 1909 dem Ziel bis auf 150 Kilometer genähert hatte. Beide Routen führen nicht nur übers glatte Eis. Es geht auf und ab. Ständig lauern Gefahren. Eisspalten sind Hindernisse und ständige, tödliche Bedrohung. Über das Schelfeis, ins Transarktische Gebirge, über eisige Berge hinauf auf das weite Hochplateau um den Südpol führt ihr Weg. Das Plateau ist ein einziger, drei Kilometer hoher Gletscher.

22. November 1911, rund 500 Kilometer sind es für Amundsen noch bis zum Ziel. Er schreibt in sein Tagebuch: "Wir sind weiter gekommen, als ich gedacht hatte. Wir haben zehn Hunde geschlachtet, zerlegt und serviert. Wir hatten die köstlichsten Hundekoteletts zum Abendessen. Ich selbst habe fünf gegessen, musste aber aufhören, weil keine mehr übrig waren. Meine Kameraden fanden die Mahlzeit auch sehr lecker."

14 Hunde lassen die Norweger im Depot auf ihrer Zwischenstation. Mit drei Schlitten und Proviant für 60 Tage fährt die Mannschaft weiter. Mit 18 Hunden hin, zurück mit zwei Schlitten und 16 Hunden. Sie wissen mit den Tieren umzugehen. Sie wissen, dass sie ein "Leittier" brauchen, und stellen deshalb einen Mann auf Skiern vor jedes Gespann. Das Zusammenspiel mit den Tieren gilt heute als ein entscheidender Erfolgsfaktor Amundsens.

Seine Antartiks-Expedition ist ein logistisches Meisterstück. Im Kapitel "Planung und Ausrüstung" seiner Reiseschilderung schreibt er detailliert auf, was ein Entdecker in den Polregionen braucht, wie man Hunde und Füße vor der Kälte schützt, welche Skier funktionieren, alles über Hundegeschirr und Schlitten und so weiter. Dass die meisten Hunde irgendwann zur Nahrung für ihre Artgenossen und für die Menschen werden, hat er kalkuliert.

Disziplin, Durchhaltewille und Improvisationskunst

Amundsen notierte beim Marsch über "Des Teufels Ballsaal": "Unser Marsch über diesen gefrorenen See war nicht angenehm. Der Boden unter unseren Füßen war offensichtlich hohl. Es klang, als ob wir über leere Fässer gingen. Erst brach ein Mann ein, dann einige Hunde, doch sie kamen alle wieder hoch." Lesen Sie bitte rechts weiter.

Der Norweger gilt als Perfektionist. Als einer, der jedes Detail vorbereitet hat und die Gewalten der Natur richtig einschätzen kann. Scott hingegen setzt auf Disziplin, auf Durchhaltewillen und auf Improvisationskunst. Der Engländer Scott hat eine Abneigung gegen Schlittenhunde. Nur 34 hat er mitgenommen, ein Drittel nur von der Zahl, die Amundsen mit in die Antarktis gebracht hatte.

Dazu 19 sibirische Ponys, die er aus Wladiwostok einschiffen lässt, die sich aber als ungeeignet für die Antarktis erweisen. Und drei Motorschlitten.

Der erste bricht schon beim Ausladen von der "Terra Nova" durchs Eis, die anderen beiden stellen bald ihren Dienst ein. Überdies glauben die Engländer: "Auf langer Strecke ziehen Briten besser als Hunde." Tatsächlich spannen sich bald die Männer selbst ins Geschirr. Scott sieht sich in diesem Urteil bestätigt, als er notiert: "Es ist nicht leicht. Die Hundeführer haben ihre Skier abgeschnallt. Sie gehen neben den Schlitten, sind bereit, den Tieren zu helfen, wenn sie mit ihren Krallen keinen Griff bekommen. Und das war unglücklicherweise den ganzen Tag der Fall. Es war ein Kampf für Hunde und Menschen. Hinzu kommt ein Sturm aus Südost mit starkem Schneetreiben. Wir sind heute vollständig blind gereist. Mit unseren vom Frost gepeinigten Gesichtern sind wir kaum noch zu erkennen. Manche haben dicke, harte Wangen, anderen müssen ihre Nase opfern, noch andere ihr Kinn. Und den ganzen Tag geht es bergauf."

Die Umstände zermürben. Und manchmal hat es den Anschein, als sei Scott überrascht, wie unwirtlich die Lebensbedingungen in der Polarregion sind. Neue Untersuchungen ergeben, dass die Temperaturen zwischen sechs und zwölf Grad unter dem langjährigen Mittel lagen. Doch Amundsen, der in Norwegens Gebirge gestählte Naturmensch, hat die Gabe, die Herausforderungen anzunehmen und aus den vergleichsweise guten Tagen Kraft zu schöpfen.

"Himmel und Erde verschwammen"

Viel zuversichtlicher klingen seine Tagebucheinträge als die seines Gegners: "Dichtes Schneegestöber und vom Sturm aufgejagte Schneewehen - Himmel und Erde verschwammen ineinander, nichts war zu sehen. Trotzdem ging es glänzend vorwärts. Die ganze Zeit über musste man sich auch Nasen, Wangen, Ohren auftauen, an denen es einen erbärmlich fror. Natürlich hielten wir dabei nicht lange an, dazu hatten wir keine Zeit. Wir zogen einfach während des Marsches einen Fausthandschuh aus und legten die warme Hand auf die erfrorene Stelle."

Das Zeitalter der Entdeckungen endet am 14. Dezember 1911 gegen 15 Uhr. Amundsen, Olav Bjaaland, Helmer Hanssen, Sverre Hassel und Oscar Wisting erreichen den Punkt 90 Grad Süd. Abgesehen von den Gipfeln der Hochgebirge ist der letzte markante Punkte auf der Erdoberfläche erobert.

Roald Amundsen schreibt: "Am Morgen des 15. Dezember begrüßte uns ein herrliches Wetter, ein Wetter wie geschaffen zur Ankunft am Pol." Der Norweger hat nicht eingerechnet, dass er die Datumsgrenze überschritten hatte.

Drei Tage lang bleibt Amundsens Team am Pol. "Polheim" nennt er das Lager. Mit einem Sextanten versichern sie sich ihrer Position. Amundsens Männer laufen auf Skiern in alle Richtungen, um sicher zu gehen, dass sie den Pol erreicht haben. Zurück lassen sie ein kleines Reservezelt. Darin liegt ein Brief an Scott. Der Inhalt: Er, der Brite, solle einen zweiten, an König Haakon adressierten Brief nach Norwegen bringen, in dem dem Monarchen mitgeteilt wird, dass seine Landsleute das Ziel erreicht haben.

"Mir graut vor dem Rückweg"

Die Idee dahinter ist weniger, Scott zu demütigen als viel mehr die Absicherung, dass jemand dem König die Nachricht überbringen könnte, falls Amundsen und seine Mannschaft auf dem Rückweg zur Küste scheitern sollten.

Am 26. Januar 1912 - nach 99 Tagen und einer Distanz von 3000 Kilometern - kommt die fünfköpfige Crew mit zwei Schlitten und elf Hunden in Framheim an. Nansens Schiff bringt sie nach Tasmanien.

Bei Scotts Leuten schwinden Kräfte und Moral. Als sie am 18. Januar den Pol erreichen, das Zelt der Norweger entdecken und die Briefe finden, wissen sie: Wir sind Verlierer. Scott schreibt: "Mir graut vor dem Rückweg."

Es werden Tage des Todeskampfes. Die Vorräte gehen zur Neige. Die Kräfte schwinden. Das Wetter wird immer schlechter. Nasser Schnee und Sturm zwingen die Gruppe zum Lagern.

Mit den Worten "Ich gehe mal gerade raus und bleibe ein bisschen", verabschiedet sich Captain Lawrence Oates von den Kameraden. Es ist sein 32. Geburtstag Oates kommt nicht wieder. Edgar Evans ist ein paar Tage zuvor an Entkräftung im Wahnsinn gestorben.

"Wir werden schwächer"

Scott schreibt: "Wir wussten, dass der arme Oates in den Tod geht. Und obwohl wir ihn davon abzubringen versuchten, wussten wir: Das ist der Akt eines mutigen Mannes und eines englischen Gentlemans. Wir hoffen alle, dass wir das Ende in einem ähnlichen Geist erreichen - und das Ende ist sicher nah."

Am 29. März 1912 schreibt Scott zum letzten Mal in sein Tagebuch. Nach acht Tagen in den Zelten, in durchnässten Schlafsäcken und in klammer Kleidung: "Ich glaube nicht, dass wir darauf warten können, dass die Dinge besser werden. Wir werden schwächer. Das Ende kann nicht mehr weit sein. Kümmert euch um Himmels willen um unsere Hinterbliebenen."

Acht Monate später werden die drei erfrorenen Körper gefunden. Nur 18 Kilometer entfernt von einem sicheren Vorratslager mit Nahrung und Brennstoff.

(chk/top)
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